Die Weihnachtsferien sind vorbei und die Kinder nach zwei Wochen heimischer 24-Stunden-Bespaßung wieder im Kindergarten. Endlich, möchte man erleichtert sagen. Zurück geblieben sind der Alltagsblues, unzählige neue Spielsachen, die es in den Kinderzimmern in einer Art Tetris-Marathon zu verstauen gilt sowie eine schier unüberblickbare Fülle neu gemalter Bilder, Knetfiguren, geklebter Skulpturen und gebastelter…ja, was eigentlich?
Manchmal ist ja nicht auf den ersten Blick ersichtlich, was sich der kindliche Künstler bei der Arbeit mit Papierschnipseln, Klebestift und Wachsmalkreide gedacht hat.

Oski Koslowski, mit seinen zwei Jahren noch in den frühen Anfängen seiner kreativen Schaffenskunst und bislang eher der abstrakten Malerei zugetan, zeichnet gerne halbrunde Bögen und Zickzack-Fragmente. Bei der anschließenden Bildbesprechung beschreibt er das Gekrakel als „Urlaub“, „Geburtstag“ oder -während gegenständlicher Phasen- als „Müllabfall“, „Feuerwehr“, „Tiger“.

Ghostbusters

Wilde Hilde dagegen erschafft gerne nützliche Objekte wie eine Kehrmaschine oder grüne Monster, die wiederum andere Monster vertreiben, die unser friedliches Miteinander bedrohen. Auch ein, zugegeben sehr instabiles Haus aus übriggebliebenen Liederblättern ihrer Taufe, entstand unter ihren unermüdlichen Händen und soll der Familie als Unterschlupf dienen, falls unser eigenes Haus einmal abbrennt. Zudem bastelt sie gerne Raketen, mit denen sie ins Weltall zu fliegen gedenkt. Im Gegensatz zu ihrem Bruder besticht Hildchens Wirken durch eine gewissen Logik und Zweckgebundenheit. Was die Problematik nicht mindert, wie mit all den aparten Dingen, die ihrer Phantasie und dem an den Tag gelegten Fleiß entspringen, umgegangen werden soll.

Zu Weihnachten gefiel es dem Christkind, Hildchen einen ganzen Schwung verschiedener Schablonen unter das beleuchtete Bäumchen zu legen. Vielleicht kennt jemand von euch dieses Set, das vor einiger Zeit im Shop eines Kaffeerösters zu erwerben war. Seit Hildchen die Schablonen in Betrieb genommen hat, flattern ohne Unterlass Blätter mit Buchstaben, Zahlen, Tieren, Schriftzügen, Rahmendesigns, Kreisen, Dreiecken und Sternen aus dem Kinderzimmer. Die DIN A 4 großen Schablonen werden von Hilde dabei auf ein leeres Papier gelegt und komplett übertragen. Wäre das Logo des Kaffeerösters in die Kunststoffplatten gestanzt, würde sie auch das ausmalen. Das ist zwar vor Erfinder nicht so gedacht, aber bitte. Interessanterweise gelingt es ihr trotz Schablone das S spiegelverkehrt zu schreiben. Keine Ahnung, wie sie das macht. Vielleicht wird sie die korrekte S-Schreibung niemals lernen, ebenso wie das Fahrradfahren. Und Radschlagen. Aber ich schweife ab.
Der Vorteil der Schablonen-Bilderflut ist: Hildchen verschanzt sich geraume Zeit in ihrem Zimmer und beschäftigt sich selbstständig.
Der Nachtteil: wenn sie das Zimmer nach besagter Zeit mit einem prallen Packen Papier unter dem Arm verlässt, verrät das stolze Strahlen ihrer Augen beim Überreichen der Arbeit, dass sie ernsthaft glaubt, mir eine Riesenfreude zu machen. Meist untermalt sie die Übergabe dann mit Sätzen wie „Hier Mama, ein Geschenk! Nur für dich! Freust du dich?“

Schablonenliebe

Über das ABC? Natürlich, warum nicht?

Selbstverständlich nicke ich gerührt, streichle lobend ihren Wuschelkopf. Derweil ficht mein Mutterherz einen unerbittlichen Kampf, ob es okay ist, sich zu freuen und zugleich drüber nachzudenken, wie man das Paket unauffällig aus dem Haus schmuggelt, um es in der blauen Tonne fachgerecht zu entsorgen.
Selbstverständlich bin ich nicht vollkommen dem Rabenmuttertum anheimgefallen. Auch ich hebe Kreativergüsse meiner Kinder auf. Für beide Künstler gibt es eine Mappe, in die ich sorgfältig ausgewählte Bilder einsortiere, versehen mit Datum und kurzer Beschreibung des dargestellten Objekts.
Aber da liegt schon das Problem.

ICH wähle aus. Nach ganz oberflächlichen Kriterien. Besonders schöne und gelungene Bilder dürfen bleiben. Darstellungen, bei denen eine Veränderung in der Maltechnik zu erkennen ist, eine Weiterentwicklung, neue Details. Wenn Männchen plötzlich Finger bekommen. Sieben Stück, aber egal.
ICH entscheide, was aufbewahrenswerte Kunst ist.
Nicht die Künstler selbst.

Hilde mit Krone und Kopfhörern neben Mama mit Brille vor unserem Haus

Hildchen würde vielleicht nach ganz anderen Kriterien auswählen. Aber wenn ich ihr die Auswahl überließe, müsste ich ihr im Vorfeld erst einmal gestehen, dass es eine überhaupt Auswahl gibt. Oder besser Selektion. Auch wenn sie nie wieder nach einem ihrer Meisterwerke fragt, wäre ihr der Gedanke, dass ich eines davon entsorgen könnte, doch unerträglich.

Der Kühlschrank in unserer Küche dient ganz klischeebehaftet als Ausstellungsfläche. Über diese darf Hildchen frei verfügen. Sie entscheidet nicht nach Kriterien wie besonders schön oder gelungen. Nicht nach verbesserter Technik. Sie entscheidet nach dem Prinzip der Unmittelbarkeit. Immer das, was sie gerade macht, ist interessant. Wunderschön. Bewundernswert. Und wenn es das zwanzigste Raupenbild mit Fingerstempelfarben ist.

Ich erinnere mich gut an Hildchens Anfänge mit Stift und Papier. Sie war knapp eineinhalb und hat einen kleinen Tisch samt Stuhl für ihr Kinderzimmer bekommen. Dicke Holzstifte, sehr gut abwaschbar, bekam sie von der Nachbarin geschenkt. Ich erinnere mich an mein Entzücken, als sie die Stifte in ihre Faust wickelte und über das Papier kritzelte. Ich erinnere mich, an ihr Entzücken. Und mein eigenes über dieses begeisterungsfähige, ausdauernde kleine Malkind. Wie hätte ich ahnen können, dass ich damals die Dose der Pandora geöffnet hatte. Einmal mit dem Malen angefangen, hat sie nie wieder aufgehört

Das erste Bild habe ich übrigens aufgehoben. Und den Moment Mutterstolz in meiner Erinnerung konserviert. Und manchmal überkommt mich dieses Gefühl wieder. Wenn zwischen den unzähligen Wiederholungen von Blumenwiesen mit Regenbögen plötzlich wahre Schätze auftauchen. Das erste Portrait von mir. Mit Brille und Messy Bun. Das Schmuckkästchen aus Streichholzschachteln. Das erste mit Bleistiftzeichnungen und Buchstabenschlangen gestaltete Buch.

Mein Weihnachtsgeschenk: ein Schmuckkästchen

Self Publishing 2.0: Hildchens erstes Buch

 

Und ich glaube, letztlich ist es okay. Es ist okay, dass ich nur diesen Schätzen das Recht einräume zu bleiben. Denn sind wir mal ehrlich: In zwanzig Jahren wird Hildchen sich einen Scheiß für ihre Kinderkunst interessieren. Vielleicht wird sie besagte Mappe einmal in einem Anflug von Nostalgie durchsehen, sich an manches Erinnern, an anderes nicht. Sie wird sich kaum den Flur mit gerahmten Strichmännchen vollhängen. Oder Schablonenbildern. Vielleicht schmunzelt sie eines Tages über das verkehrte S. Und über die sieben Finger. Es mögen selektive Erinnerungen sein. Aber immerhin sind es welche.

Falls übrigens jemand noch Kapazitäten in seiner blauen Tonne übrig hat: ich hätte da noch was zu entsorgen…