Ich stehe am Ufer des zugefrorenen Sees und lasse den Blick über die blanke, spiegelglatte Fläche gleiten. Keine Kratzer von Schlittschuhen, keine Rillen von Schuhprofilen, keine Pfotenabdrücke von Wildtieren. Nichts. Nur gefrorenes Wasser. Unberührt liegt es vor mir, so unberührt wie das Jahr 2021. Spiegelglatt, ohne Fixpunkte, die man anvisieren, an denen der Blick sich festkrallen kann. Zögernd stehe ich am Ufer und weiß nicht, wie dick das Eis ist, ob es mich tragen wird, sobald ich einen Fuß darauf setze oder ob die Schicht unter meinem Gewicht nachgibt und ich einbreche, um im kalten Wasser zu versinken. Fröstelnde Ungewissheit. Überhaupt, alles ist so schrecklich ungewiss geworden. Rückkehr zur Normalität, Schule, Kindergarten, Restaurant-, Kino-, Theater-, Schwimmbadbesuche,soziale Kontakte – nichts davon ist absehbar, niemand wagt Prognosen abzugeben, selbst der unerschütterlichste Optimist übt sich in Zurückhaltung.

Das Jahr 2021 gleicht dem zugefrorenen See: spiegelglatt, ohne irgendwas, an dem das von Corona getrübte Auge in Hoffnung auf Besserung Halt suchen kann. Obwohl der Januar so gut wie vorbei ist, trippele ich noch immer unruhig auf der Stelle, wage nicht, mich auf das Jahr einzulassen, vermeide jegliche Planung, weil Pläne ein fragiles Konstrukt geworden sind. Corona und all seine Folgen hat sie zu klischeehaften Kartenhäusern degradiert, die man in einem Anflug von weinlauniger Zuversicht oder wahlweise bedauernswerter Naivität zwar bauen kann, den Einsturz aber bewusst mit einkalkuliert, spätestens dann, wenn die nächsten RKI-Zahlen veröffentlicht werden, wenn die nächste Welle rollt, wenn der Lockdown in eine weitere Verlängerung geht.

Und doch: Ich kann nicht ewig am Ufer stehen bleiben. Nicht hier am See, nicht im Kalender, nicht in meinem Leben. Irgendwann muss ich den ersten Schritt wagen, mich aus der Blase des Ist-Zustands wieder dorthin wagen, wo die nach vorne gerichteten Blicke wohnen und die Zukunftsvisionen zu Hause sind. Ich brauche eine Perspektive, für mich, die Kinder, unsere Familie, eine Marschroute, auf der wir uns durch das Jahr bewegen wollen, auch wenn die Schritte knirschen, auch wenn wir vielleicht nur einen vor und zwei wieder zurück machen müssen. Aber wir müssen uns bewegen, egal, in welche Richtung, denn Stillstand ist der Tod. Sozialer, zwischenmenschlicher, wirtschaftlicher Tod.

Weil Pläne, besonders die langfristigen, aktuell nicht funktionieren, versuche ich es mit kleinen Zielen. Suche fieberhaft nach winzigen, unkomplizierten Impulsen, Mini-Anstößen, um mich anschubsen zu lassen und nicht länger auf der Stelle zu treten. Es sind kaum mehr als zögerlich skizzierte Zukunftsbilder: Pampasgras am Gartenhäuschen pflanzen, sobald der Frühling kommt – und der wird kommen, auf die Jahreszeiten ist Verlass, die zwingt selbst Corona nicht in die Knie. Der Gedanke an das fedrige Gewächs, an die Gartenarbeit, das Umgraben, Abschneiden, Säen, Pflanzen, an die Vorfreude auf Märzsonne im Gesicht und Frühlingserde unter den Nägeln, zieht meinen Blick zaghaft ein paar Monate (März, April, Mai) weiter in die Zukunft. Außerdem will ich Hildchens Zimmer endlich schulkindtauglich machen, mit Bücherregalen, die auf dem Dachboden darauf warten, an Wände genagelt und mit Erstlesebüchern bestückt zu werden – bis Mitte Februar soll alles fertig sein.
Es sind lächerliche kleine Ziele, Garten und Kinderzimmer aufzuhübschen. Aber machbare. Besser kleine Mäuseschritte als bewegungsloses Erstarren. Und deshalb setze ich vorsichtig den Fuß auf das Eis. Rutsche langsam, langsam vorwärts. Raus aus dem Stillstand, rein in das neue Jahr. Halbherzig getragen von der Hoffnung, nicht einzubrechen.