Der Sommer geht spürbar zu Ende. Die Tage werden kürzer. Kühler. Um mich herum aber scheinen die Temperaturen zu steigen, Einschulungsfieber grassiert wie eine hochansteckende Grippe. Aus allen möglichen Richtungen meines Bekanntenkreises schwappen mir eine Mischung aus Vorfreude, Nervosität und jede Menge Respekt vor dem unbekannten Neuen entgegen. Veränderungen, die mit Schulbeginn in den Alltag der gesamten Neuschulkindfamilie mit einziehen. Bekommt man quasi zum Stundenplan gratis dazu. Von der Spiel- und Spaßgesellschaft im Kindergarten hin zu pünktlich in der Schule erscheinen und täglich wiederkehrenden Pflichten wie Hausaufgaben.

Einschulung heißt Loslassen und Veränderung. Für die Erstklässler bedeutet der erste Schultag maximale Aufregung. Neue Umgebung, neue Gesichter, neuer Ranzen und natürlich die Schultüte! Die Aufregung, die dieser Meilenstein im Leben der Kinder und der befreundeten Familie bedeutet ist förmlich greifbar.

Und doch erleben es nur die Anderen

Eigentlich sollte ich jetzt ebenfalls hibbeln. Eine Schultüte basteln. Schulranzen aussuchen. Hefte besorgen. Einen Kuchen für das feierliche Zusammensein mit der Familie am Nachmittag backen. Zu H&M gehen und ein cooles Einschulungsoutfit kaufen. Neue Schuhe. Ach was weiß ich.

Besonders diese Meilensteine sind es, die immer wieder weh tun. Die den Verlust spürbar machen. Mir fehlt etwas. Wenn Noah nicht hätte gehen müssen, wäre auch er ein Schulkind geworden. Jetzt. Nach den Sommerferien. Immer wieder male ich mir aus, wie er wohl ausgesehen hätte an diesem besonderen Tag. Hätte er die blonden Locken lang und wuschelig getragen? Oder sich lieber einen lässigen Haarschnitt gewünscht?

Auf welches Schultütenmotiv wäre seine Wahl gefallen?

Was mögen sechsjährige Jungs?

Und der Schulranzen, für welches Design hätte er sich entschieden? Wäre die Wahl auf einen Trolley gefallen, weil er nicht schwer hätte heben dürfen wegen dieses verkackten Loeys-Dietz-Syndroms? Hätte er das doof gefunden? Sich womöglich anders gefühlt? Angst gehabt, dass seine Mitschüler ihn auslachen?

Es lähmt mich, diese Fragen nicht beantworten zu können. Und es macht mich wahnsinnig, sie nicht beantworten zu dürfen. Ich weiß nicht, was für ein Junge Noah geworden wäre. Wenn ich nun die gleichaltrigen Kinder befreundeter Familien sehe, die wachsen dürfen, zur Schule gehen dürfen, ist das Loch, das Noah hinterlassen hat kratergroß.

Die Erstklässler dürfen wieder ein Stück erwachsen werden

Weil ich es nicht ertragen kann, keine Ahnung zu haben, wer Noah mit sechs Jahren am Tag seiner Einschulung gewesen wäre, schließe ich die Augen. Ich lasse ihn eine beige Cargohose tragen, einen kuscheligen Hoodie, weil er etwas bequemes tragen soll, in dem er sich wohlfühlt an seinem großen Tag. Kein steifes Hemd, dass fremd und ungemütlich ist auf seiner Haut. Er strahlt mit seinen goldenen Locken um die Wette. Er trägt sie lang, ein bisschen zu lang vielleicht, würde sein Opa sagen, der von Surfer-Style keine Ahnung hat. In Noahs Arm stolz die Schultüte, vielleicht ist sie dunkelblau mit hellblauen Lettern. Noah steht darauf. Er hält sie wie eine Trophäe. Ein Trotz-Pokal, den er seiner Prognose entgegenhält, die mancher Arzt ihm gegeben hat. Ich habe es geschafft, sagt sein Blick, seine großen braunen Augen. Ich hab es bis zur Einschulung geschafft. Seine Büchertasche auf Rollen ist natürlich so cool, dass seine Mitschüler ihn nicht auslachen, sondern beneiden. Vielleicht mit Batman darauf. Oder besser noch Superman. Superkräfte für meinen Superjungen. Vor lauter Pipi in den Augen kann ich ihn nur verschwommen sehen, als er mit seinen neuen Klassenkameraden der Lehrerin ins Klassenzimmer. Ich heule vor Rührung und Stolz.

Nein, Moment. Ich öffne die Augen. Und heule wirklich. Nicht vor Rührung. Sondern weil mir wieder einmal schmerzhaft bewusst wird, dass mit Noah unzählige solcher erster Male gestorben sind. Unzählige verpasste Neuanfänge, Wendepunkte, Meilensteine. Er hat alles mitgenommen. Ein ganzes Menschenleben.