Es war nicht geplant. Ganz und gar nicht. Und unter normalen Umständen wäre es auch gar nicht passiert, ja mehr noch, ich wäre nicht mal am Ort des Geschehens gewesen. Hingestreckt auf dem Sofa nämlich, zwischen plattgelegenen Kissen, an einem gewöhnlichen Wochentag. Erschöpft vom Tag, der Kopf dröhnend und mit einem bitteren Geschmack von Ausweglosigkeit auf der Zunge, gegen den selbst der beruhigende Kamillentee nichts auszurichten vermochte, an dem ich unter Mobilisierung letzter Energiereserven nippte.

Ich befand mich also an einem ungewöhnlichen Ort zu einer ungewöhnlichen Zeit in einem leider nicht mehr ganz so ungewöhnlichen Zustand: Coronamüde, ausgelaugt von Lockdown und Homeschooling, abgekämpft von der Anstrengung, meinen Kindern Freunde, Sportaktivitäten, Freizeitmöglichkeiten, Kindergarten und Schule zu ersetzen.

Mir fehlten sowohl Lust als auch Energie für sinnvolle Beschäftigungen wie Wäschezusammenzulegen oder die Lektüre eines intellektuell anspruchsvollen Leitartikels. Nicht mal zum Ins-Bett-Gehen konnte ich mich aufraffen, bedeutete schlafen doch nur, am nächsten Morgen in genau der gleichen beschissenen Situation wieder aufzuwachen.

Das Einzige, was ich wirklich wollte, war Abhauen. Nur in Gedanken natürlich, denn die geltende Ausgangssperre vereitelte jegliche abendlichen Fluchtambitionen. Und das Pflichtgefühl meiner Familie gegenüber sowieso. Einziger moralischer Ausweg und zugleich einzig verbleibende physische Bewegung, die im Bereich des Möglichen lag, war ein sanfter Druck des Daumens auf dem Netflix-Button der Fernbedienung. Klingt erstmal nicht weltbewegend. Aber es war genau das. Denn wie durch Zauberhand tat sich nicht nur eine, nein, es taten sich hunderte neuer Welten auf. Potentielle Alltagsfluchten, bitternötige Abwechslung zum Lesefibel-Rechenraupen-Wer-schnappt-Hubi?-Spaghetti-mit-Tomatensoße-Einheitsbrei der vergangenen Monate.

Welche Welt darf es sein?

Mit Rory und Lorelai ein bisschen im verschlafenen Stars Hollow abhängen? Kein Problem! Oder lieber die Kenntnisse auffrischen, wie man die spanische Notenbank überfällt? Aber gerne doch! Wer weiß schon, in welche finanziellen Engpässe die Pandemie uns möglicherweise zwingen wird, besser ein paar Pläne für den Ernstfall im Hinterkopf haben. Oder doch lieber ein paar Morde in der rauen Natur Islands aufklären? Gute Idee, denn wie gesagt, man weiß ja nie, zu was man sich irgendwann hinreißen lässt, wenn das mit dem Aufeinanderhocken so weitergeht …

Mir standen mehr Fluchtoptionen aus dem Alltagskäfig mit den COVID-Gitterstäben offen als ich Zeit zur Verfügung hatte, denn so ganz ohne Schlaf läuft eine Pandemie mit zwei kleinen Kindern dann eben doch nicht, da braucht`s schon ein paar Stunden Schlaf, auch wenn man keine Lust darauf hat. Die Wahl meiner medialen Abendgestaltung musste also weise gewählt werden und ich fühlte mich ähnlich unter Druck wie einst Indiana Jones bei seinem letzten Kreuzzug, als er sich entscheiden musste, welcher Kelch eines Königs würdig war. Aber ich schweife ab. Sorgfältig sondierte ich die sendereigenen Serienempfehlungen und blieb schließlich bei Bridgerton hängen. Pastellfarbener Kostümkitsch – perfekt für seichte Berieslung, die hervorragend mit dem Kamillentee harmonierte. Einzige geistige Anforderung war, sich die blumigen Namen der unzähligen Ladys und Lords, Herzöge und Herzoginnen zu merken (was zugegebenermaßen ein paar Folgen gedauert hat). Davon abgesehen konnte ich einfach pfannenkuchenplatt auf dem Sofa liegen, blinzeln, atmen und zusehen, was man im England des Jahres 1813 nach Vorstellung der Drehbuchautoren so alles getrieben hat. Und das war durchaus unterhaltsam. Denn da wurde sich abends ballfein herausgeputzt, um zu poppiger Streichmusik zu tanzen und tagsüber mit Sonnenschirm und Anstandsdame defiliert, zu jeder Tageszeit fleißig intrigiert und all das von der Kostümabteilung ganz hinreißend inszeniert. Auch wenn ich üblicherweise eher für Männer auf Motorrädern und bärtige Wikinger zu haben bin, gelang es Bridgerton dennoch, mich sanft an der Hand zu nehmen und ohne Mühe hineinzuführen in die Ballsaison und die Bemühungen der High Society, ihre Töchter an den Mann zu bringen. Wo wir schon beim Punkt wären.

Darf ich bitten?

Wer mich besonders sanft an der Hand nahm und in eine verstörend-betörende Welt spitzbübischen Grinsens und geheimnisvoller Augenaufschläge entführte, war ein Mann. Papperlapapp, es war DER Mann, kein geringerer als der Duke of Hastings. Vergessen waren die tagsüber im harschen Ton erteilten Befehle der Kinder, ihren immensen Hunger mit einer endlosen Reihe von Snacks zu stillen. Wie weggeblasen der Frust, seit Monaten mit keinem anderen erwachsenen Menschen geplaudert zu haben als mit meinem Mann. Vergessen sogar, dass ich überhaupt einen Mann hatte! Vergessen die Tatsache, dass sich das Leben nur noch in den eigenen vier Wänden abspielte, was zunehmend Zweifel nährte, ob überhaupt noch menschliches Leben außerhalb der eigenen Bubble existierte. Ausradiert die Momente größter Verzweiflung, in denen ich mich mit einer Packung Oreos im Bad verschanzt hatte, weil einfach kein Ende der Pandemie in Sicht war und eine Überdosis Industriezucker milde Erlösung versprach.

Der mehr als gutaussehende Duke, der seinen Charme versprühte wie Lady Whistledown ihre ausgefeilt formulierten Spitzzüngigkeiten, ließ mich für die Dauer einer Folge sogar den Lockdown vollkommen vergessen.

Statt in der heimischen Klause ein eremitisches Dasein zu darben, durfte ich nun Gast bei prunkvollen Bällen sein, mit dem Duke und dem Juwel der Saison das Tanzbein schwingen und unter den wachsamen Augen ambitionierter Mütter in prächtig grünen Parks spazieren gehen. Inmitten farbenfroher Empirekleider und ondulierter Haare schmachtete ich den Duke an und freute mich über das pudrig-wattige Gefühl, das er in meinem Kopf hinterließ. Ein Gefühl, das ich teilen wollte, weil ich wusste, dass viele Köpfe dieser Tage eher mit klebrig-zäher Substanz gefüllt waren, auf der hässliche Begriffe (Inzidenzzahlen, Abstandsregeln, FFP2-Masken) schwammen wie faulige Pilze.

„Du musst“, schwärmte ich meiner Freundin mit sich leicht überschlagender Stimme vor, „unbedingt Bridgerton anschauen!“

Betörend wie er war, versetzte der Duke auch meine Freundin in Entzücken und wir tauschten uns hingebungsvoll über besonders ansprechende Instagram-Bilder „unseres“ Dukes aus, teilten YouTube-Videos, in denen seine sinnlichen Lippen und unwiderstehlichen Hände zum Einsatz kamen, mutierten zu kleinen Fan-Girls und fühlten uns kein bisschen schlecht dabei.

Corona what?

In Zeiten wie diesen ist jedes Mittel recht, ein bisschen für Zerstreuung zu sorgen, selbst wenn es nur ein paar Tagträume sind. Tagträume, auf denen sich leichtfüßig durch bleischwere Tage schweben lässt. Tagträume, für die völlig irrelevant ist, dass ich laut meines Personalausweises weiter vom Fan-Girl-Alter entfernt bin als meine siebenjährige Tochter. Tagträume, die sich nicht mit der Tatsache beißen, dass ich ja einen eigenen Mann habe, der zwar kein bisschen dukemäßig ist, aber dafür andere Vorzüge hat. Tagträume, die den WhatsApp-Chat mit meiner Freundin mit GIF`s fluten, auf denen die anbetungswürdigen Finger des Dukes keusch und unvorstellbar zärtlich den Rücken seiner Angebeteten berühren. Tagträume, die das Spülmaschine-Ausräumen versüßen, weil man statt des Besteckkorbs den halbnackten Adeligen in einem Boxring herumtänzeln sieht. Mit Schweißtropfen auf den wohldefinierten Oberarmen und der breiten, wirklich sehr einladend trainierten Brust.

Ich schäme mich nicht zu sagen, dass die 1.Staffel Bridgerton, die ich mir in wohldosierten Häppchen einverleibte, um möglichst lange etwas davon zu haben, das Beste der endlos zähen Lockdown-Tage war. Und ich scheue mich auch nicht zuzugeben, dass mich nach dem Staffelfinale der Serien-Ende-Blues packte. Denn wie das eben so ist mit (Tag)Träumen: irgendwann wacht man auf. Dann ist der Geschirrkorb wieder nur ein Geschirrkorb. Dann zwickt die Leere dort, wo man gerade noch so blumig vor sich hin phantasiert hat. Dann ist man ein bisschen wie auf Entzug.

Ich brauche neuen Stoff!

Mein Dealer Netflix enttäuschte mich nicht und bot mir The Last Kingdom als Versucherle an. Und was soll ich sagen? Uhtred von Bebbanburg, der langhaarige Sachsen-Dänen-Krieger mit den wohl absurdesten tiefseeblauen Augen, die Netflix aktuell zu bieten hat, hatte leichtes Spiel bei mir. Flink mit dem Schwert, tapfer im Gefecht, sanftmütig bei den Frauen. Schon nach der zweiten Folge träumte ich mich beim Kartoffelschälen hinter den Schildwall, schwang mich hinter Uhtred auf den Rücken eines Pferdes und ritt mit ihm der Abendsonne entgegen, um England zu vereinen. Dass ich wieder bei meinem langhaarigen, raubeinigen und wildbärtigen Beuteschema angelangt war, gab den Extrakick und fühlte sich ein bisschen an wie Heimkommen.

Ich habe übrigens im Gefühl, dass das mit Uhtred und mir was Längeres wird. Mindestens vier Staffel.