Es war an einem dieser raren sonnigen Tage dieses Jahres. Wilde Hilde durfte mit den Großeltern im Kindertheater zu Pippi Langstrumpf ins Taka-Tuka-Land reisen. Der Nachmittag gehörte alleine Oski Koslowski und den vorfrühlingshaften Sonnenstrahlen. Über holprige, weil schlammige Feldwege schob ich meinen Sohn im Buggy zwischen noch kahlen Felder und dürren Obstbaumplantagen hindurch. Der frische Wind färbte unsere Wangen rot, wir hielten Ausschau nach einem Dador (oskianisch für Traktor) und beobachteten Flugzeuge am eisblauen Himmel, die Kondensstreifen zogen.
Nachdem er genug gestaunt, beobachtet, aufgesaugt hatte, hielt es das kleine Energiebündel nicht länger im Kinderwagen: „Iwilllauf.“
Also tapste er neben mir her, eine Wackelraupe hinter sich herziehend. So liefen wir eine Zeitlang: das sich entfernende Tuckern des Traktors im Hintergrund, ansonsten nur das klappernde Geräusch der Holzraupe auf dem Betonweg und das knirschende Rollen der Buggy-Reifen. Momente friedlicher Ruhe.

Plötzlich ergriff Oski Koslowski den Zeigefinger meiner freien Hand und wir gingen Händchenhaltend weiter.

Ich war im wahrsten Sinne des Wortes berührt.

Denn Oski ist kein Junge, der sich gerne an der Hand nehmen lässt. Er will springen, vorlaufen, zurückbleiben, nach links und rechts springen, Umwege gehen, frei sein. Beim Überqueren von Straßen gibt es regelmäßig Gezeter und Geschrei, wildes Weigern und sich Aufbäumen, wenn ich ihn bitte, mir die Hand zu reichen, bis wir den gegenüberliegenden Gehsteig erreicht haben.

Wilde Hilde ist da ganz anders. Sie sucht immer und überall meine Hand. Auf dem Weg in den Kindergarten, beim Essen, beim Einschlafen, selbst beim Zähneputzen. Sie wollen halten und gehalten werden, Sicherheit fühlen, Liebkosungen ernten, unterstützende Hilfestellung erbitten. Ihre mittlerweile langen, schmalen Mädchenhände sind mir vertraut, das federleichte Gewicht, die weiche Beschaffenheit ihrer Haut.

Das Gefühl Oski Koslowskis patschiger, warmer Kleinkindhand in meiner verblüfft mich dagegen. Weil ich sie selten spüren darf. Ich halte ihn, zaghaft, nicht zu fest um ihn nicht einzuengen und zu riskieren, dass er seine Hand plötzlich wieder zurückzieht. Das tut er nicht. Wir laufen lange so, schweigend. Und ich genieße den Augenblick. Hand in Hand mit meinem Sohn. Und denke unweigerlich an meinen anderen Sohn und seine Hände.

Noahs Hände. Die ersten Babyhände, die ich auf mir spürte. Die so anders waren. Immer zu kleinen Fäustchen geballt, weil die Beugesehnen von Zeige-, Mittel-, Ring- und Kleinfinger verkürzt waren. Nur den Daumen konnte er strecken. Ich spürte nie seine ausgestreckte, flache Hand auf meiner Haut, immer nur die Fäustchen. Wenn ich meinen eigenen Zeigefinger in diese kleine, runde Faust schob und er mich umklammerte wünschte ich mir, dass er mir eines Tages über meine Wange streicheln würde. Das hat er nie. Die Kontrakturen wurden dank Physiotherapie besser, er lernte gut zu greifen, aber zu diesem Moment, in dem ich seine flache Hand auf meiner Haut gespürt habe, ist es nie gekommen. Erst mit Wilde Hildes Geburt durfte ich diese Erfahrung machen und ich erinnere mich, wie fasziniert ich in den ersten Tagen von ihren völlig gesunden Händen war. Sie bestaunen, ihre Funktionen testen, die samtigen Innenflächen berühren musste.

Während ich in Gesellschaft von Oski Koslowski und der Holzraupe spazierte, dachte über die Besonderheiten all dieser Hände nach:

Noahs Fäuste, die immer gerne an Ohren knubbelten, seine eigenen oder auch den Ohrläppchen derer, die ihn auf dem Arm trugen. Seinen Daumen, von uns liebevoll Schumi-Daumen genannt, weil er ihn immer nach oben reckte wie einst der Rennfahrer nach einem Sieg, als wollte er sagen, alles in Ordnung. Der schweißige Geruch seiner Hände im Sommer, wenn wenig Luft an die Handinnenflächen kam. Das feste Klammern an meinen ihn tröstend haltenden Finger, wenn Ärzte ihn piekten, Blut abzapften, ihm Gipse anlegten oder aufsägten, wenn die Physiotherapeutin seine verdrehten Füßchen bog und dehnte, wenn er Medikamente eingeflößt bekam, die seinen Blutdruck senken und sein Herz schützen sollten. Auch die Erinnerung an die kalten, steifen Finger mit den lila verfärbten Fingernägeln ließ ich zu, die auf seinem stillen Brustkorb in dem kleinen weißen Sarg lagen.

Ich dachte an Hildchens Hände, die mir vorkamen wie ein Wunder, als ich sie das erste Mal sah und die mich auch heute immer wieder aufs Neue mit ihren Fähigkeiten erstaunen. Die geschickt Bügelperlen zu Bildern stecken, unzähmbare Haarsträhnen aus der immer blassen Stirn streichen, mit Holzstiften Piraten-Bilder malen, undefinierbare Melodien auf der Gitarre klimpern, zu viel Parmesan auf die Nudeln streuen, Erdbeeren stibitzen, in der Nase bohren, klebenschnippselnschneiden, wütend Türen zuknallen, Papierflieger steigen lassen, Sandkuchen backen, in Büchern blättern, Pilze und Brokkoli schneiden, im Matsch pantschen, unter deren Fingernägeln sich permanent Knetreste verstecken. Zarte, lange Hände, die auf meinen Wangen ruhen, wenn sie flüstert: „Du bist meine allerbeste Freundin.“

Ich dachte an Oski Koslowskis Hände, die von Geburt an nicht sehr interessiert waren, gehalten zu werden, die aber sehr gerne und ausgiebig beim Stillen mein Dekolleté streicheln, die unbesaugte Brust liebkosen, an meinen Nackenhaaren spielen, Autos gegen Wände sausen lassen, Klappbücher durchblättern, Spielzeugbaggerschaufeln befüllen, Steine sammeln, den Nachbarshund streicheln, in der vollen Teetasse baden, sich an meinem Beinen festklammern, mir Mützen vom Kopf ziehen, Besuchern fürsorglich Hausschuhe in die Garderobe bringen, den CD-Schrank ausräumen, den Küchenboden mit edelsüßem Paprikagewürz bestreuen, Wilde Hilde umarmen oder wahlweise von sich schubsen und so selten nach meiner Hand greifen, einfach nur um des Händchenhaltens willen.

Ich dachte an meine Hände, die mittlerweile so rissig und rau sind vom vielen Händewaschen, spülen, in der Erde wühlen, bügeln, Flecken aus Kinderkleidung waschen, vollgepieselte Möbel desinfizieren, Töpfchen reinigen, Nackefrösche baden, das Haus putzen. Die Innenflächen sind spröde und reißen Laufmaschen in Feinstrumpfhosen, wenn ich mal wieder nicht drumherum komme, welche zu tragen. Meine Hände, die glitschige Neugeborene begrüßt haben, die Popos sauber wischen, Tränen trocknen, feine Babyhaare kämmen, Zöpfe flechten, Schuhe anziehen, Schals wickeln, fieberwarme Wangen streicheln, Regenwürmer retten, über Tastaturen sausen. Hände, die neues Leben begrüßt haben und loslassen mussten, als Leben sich verabschiedet hat.

Mitgenommen sehen sie aus. Weil sie viel mitgemacht haben.

Und sie halten fest. Lange, schmale Mädchenhände und warme, kleine Patschepfoten.

Wann immer sie dürfen und so lange man sie lässt.