Bevor ich Mutter wurde, hatte ich diese naive Vorstellung eines täglich von hellen Kinderlachen erfüllten Hauses, in dem Frohsinn von tapsenden Kinderfüßen von Raum zu Raum getragen wird und Fröhlichkeit und Leichtigkeit an den Wänden kleben wie lustige Kinderzeichnungen. Nun muss man dazu sagen, dass ich generell etwas zu verklärten Vorstellungen neige, die nicht immer der Realität entsprechen. Dass diese Realität jedoch so weit von meiner vormütterlichen Vorstellung entfernt ist, hätte ich mir nicht träumen lassen.

Statt im kichernden Kinderland stecke ich nämlich mitten drin im knatschigen Jammertal. Wilde Hilde hat seit einiger Zeit ihre namensgebenden wilden Attribute abgelegt und müsste nun eigentlich Heule-Hilde heißen. Denn das tut sie.

Den ganzen Tag. Ohne Unterlass. Ohne Grund.

Ihr Tonfall gleicht einer Klaviatur innervierender Jammerlaute.

Weil es zu dunkel ist beim Aufstehen. Oder zu hell. Weil das Müsli in der falschen Schüssel serviert wird. Und die Menge zu viel/ zu wenig ist für den morgendlichen Hunger. Weil sie genau den Pulli anziehen will, der vollgekleckst in der Wäsche liegt. Und plötzlich zum unangefochtenen Lieblingspulli auserkoren wird, ohne den sie das Haus nicht verlassen kann. Weil sie selber Zahnpasta auf die Zahnbürste quetschen wollte. Und die Streifen der Pasta gerade auf den Borsten liegen sollen und nicht ineinander verquirlt. Weil die Träger ihres Kindergartenrucksacks sich nur schwer über die dicke Winterjacke streifen lassen. Und der Rucksack sowieso viel zu schwer ist.
Weil ich gesagt habe: „Zieh bitte deine Schuhe an, wir müssen los!“ Und sie nicht möchte, dass ich sowas gemeines sage. WTF?

Perlenkettenartig reiht sich ein Lamento an das nächste, jede neue Situation unseres Alltags bietet ihr auf mysteriöse Weise Grund in klagendes Gewimmer zu verfallen, dessen Frequenz an den Trommelfellen zerrt und sie zu zerreißen droht. Und wie so oft stelle sich mir die Frage: durchläuft eigentlich nur mein Kind diese furchtbar nervtötende Phase? Ist allen anderen Eltern meine romantische Haus-voller-Kinderlachen-Phantasie vergönnt? Und ist es okay, diese Walgesänge doof zu finden? Darf man das überhaupt sagen: „Das Gejammer meines Kindes geht mir gehörig auf den Keks?“

Während ich mich noch mit dieser Moralfrage beschäftigte und nebenbei Internetrecherche zum Thema „Ausgeprägte Jammerphase bei Vierjährigen“ betrieb, stieß ich durch Zufall binnen weniger Tage auf zwei Mütter, deren Töchter offenbar aktuell eine ähnlich erheiternde Phase durchlaufen. Die erste Mama sprach mich im Kindergarten an, als ich Heule-Hilde schluchzend am Morgen in den Kindergarten führte. Ihr Tönen erfüllte binnen Sekunden den gesamten Kindergartenflur und ein Mädchen fragte besagte Mama, warum Hilde denn so weine?
Ich erwiderte achselzuckend: „Ach weißt du, dafür braucht Hilde keinen Anlass. Das ist ihre Grundstimmung.“
Die Mutter warf mir diesen typischen Blick zu, eine Mischung aus Erleichterung und Ungläubigkeit, dass das Gegenüber in einer ähnlichen Situation steckt wie man selbst.
„Ist das bei euch gerade auch so schlimm?“ fragte sie fast schon verschwörerisch. Ich musste nicht antworten, eine ausladende Geste auf das larmoyante Hildchen genügte.
Dann, wenige Tage später, plauderte ich virtuell mit einer Insta-Mama über den Nachwuchs und ich traute mich das Thema zu streifen und berichtete von Hildes weinerlichen Gebaren. Binnen Sekunden erreichte mich auch hier die tröstliche Bestätigung, dass nicht nur mein Kind offenbar in diesem Sumpf aus Heulen und Klagen feststeckt und beim Versinken im eigenen Selbstmitleid die mütterlichen Geduldsfäden gefährlich in die Länge zieht.

Doch was steckt nun hinter dieser Phase?

Ist es überhaupt eine Phase?

Oder zeigt sich hier eine erste charakterliche Manifestation?

Neigt Hilde dazu, ein Jammerlappen zu sein, der sich situativ schnell aus der Fassung bringen lässt und kampflos in der eigenen Verzweiflung verstrickt?

Hildchen zeigt aktuell deutlich, dass sie sich in einer Übergangsphase befindet. Ihre Selbstwahrnehmung prägt sich zunehmend aus, ihr eigener Wille nimmt Formen hat. Immer mehr Alltagsdinge möchte sie selbst meistern und zugleich wimmert sie, dass ich ihr die Schuhe anziehen soll. Das Schwanken zwischen „Ich kann das alleine!“ und „Mama, hilf mir!“, bei Dingen, von denen ich genau weiß, dass sie sie selbst erledigen kann, lässt uns alle ganz schwindelig werden. Ihre extreme Weinerlichkeit könnte also durchaus Ausdruck der momentanen Unsicherheit sein. Groß werden kann einem Angst machen. Die Welt der Erwachsenen, in die man langsam hineinwächst, auch. Und dann muss man eben weinen. Ohne gleich als Heulsuse abgestempelt zu werden.

Und mein Job als Mama?
Tja, was macht man als Mama mit einem weinenden Kind?
Trösten, in den Arm nehmen, Sicherheit vermitteln. Aber auch – und ich finde mit einem vierjährigen Kind ist das durchaus möglich – ansprechen, dass dieses viele Weinen und Jammern auf Dauer ganz schön anstrengend ist. Für uns beide. Und sie auffordern zu versuchen, mir zu sagen (in gesprochenen Worten und normalem Tonfall, ohne infernalisches Kieksen und Tränenmeer), wenn sie etwas doof findet oder anders machen möchte. Manchmal nickt sie ganz verständnisvoll, wenn ich versuche mit ihr zu sprechen und ihr zu erklären, was das viele Gejammer mit uns macht. Manchmal schraubt sich ihr Heulen nur in noch höhere Dezibelbereiche, die dem menschlichen Ohr sicher nicht zuträglich sind.

Dann hilft nur bis zehn zählen.

Oder kurz den Raum verlassen.

Und viel beruhigender Kamillentee.

 

Haltet durch ihr Mamas und Papas von kleinen Heulbojen – auch diese Phase werden wir überstehen!

 

Eure Tee schlürfende landMOMeranze