Irgendwie dachte ich ja, gewisse Unregelmäßigkeiten in unserem Alltag regulieren sich wie durch Zauberhand, sobald Hildchen zur Schule geht. Wie eine Art automatisches Einrasten all dessen, was außerhalb geregelter Bahnen läuft.
Denn Hildchen ist entgleist.
Schon im Alter von eineinhalb Jahren.
Zu diesem Zeitpunkt weigerte sich mein sonst so unkompliziertes Kind plötzlich, Mittagsschlaf zu halten. Dabei machte es den Anschein, als hätte sie bis zu diesem Zeitpunkt unsere gemeinsame Auszeit nach dem Mittagessen durchaus genossen. Mir war die Kuschelzeit heilig, das herzerwärmende Gefühl, wenn sich Hildchens Wange an meine schmiegte, und immer ruhiger werdende Atemzüge aus ihrem dösenden Mündchen strömten. Hildchens C02-Ausstoß wirkte auf mich wie ein Lavendel-Baldrian-Bad und nicht selten schlummerte ich ebenfalls ein. Erfrischt von der erholsamen Siesta hatten wir dann genug Energie, den restlichen Tag mit Bauklötzchenschmeißen, „Wenn ich ein Vöglein wär’ “ trällern, im Schneckentempo spazieren gehen oder anderem Unfug zu verbringen. Aber plötzlich wollte Hildchen von unserer Kuschelauszeit nichts mehr wissen. Putzmunter kroch sie im Bett umher, als sei das eine olympische Disziplin, sie quasselte mir die Ohrmuschel porös und wehrte sich gegen beruhigenden Gesten wie ein Ninja. Als hätte sich ihre Energieversorgung umgeleitet, die dafür sorgte, dass Hildchen auch ohne Schlaf fit durch den Tag lavierte – wie auch immer ihr kleiner Körper das bewerkstelligt haben mochte.

 

Kleine Kinder brauchen Mittagsschlaf

Es fiel mir schwer mich von der Maxime zu lösen, das Kinder unbedingt Mittagsschlaf bräuchten, noch schwerer aber, auf die innigen Auszeiten zu verzichten. Schließlich akzeptierte ich beides und fand mich damit ab, dass meine Tochter eben ein kleines Duracell-Häschen war. Als es dann mit fast drei Jahren Zeit für die Kita wurde, kollidierte Hildchens geringerer Schlafbedarf mit den Buchungszeiten. Die U-3 Kinder MUSSTEN schlafen, Ausnahmen gab es nicht, weil keine Betreuungskraft zur Verfügung stand, die sich um Nichtschläfer hätte kümmern können. Hildchen wurde also als einziges Kind der Gruppe schon nach dem Mittagessen kurz vor Zwölf wieder abgeholt. Fand sie doof, alle anderen durften ja blieben. Sie wusste nicht, dass ihre Freunde nicht weiter spielen durften, sondern in den Schlafraum verfrachtet wurden. Wenn sie es gewusst hätte, dass ihre Kumpels nicht fröhlich weiter tobten, sondern schlafen mussten, hätte es vermutlich weniger Tränen und Abholdramen gegeben. Aber wir überstanden auch das und die Tränen trockneten mit dem Übergang in den Regelkindbereich, denn da musste niemand mehr Mittagsruhe halten. Für manches wechselnde Kind ein Problem, für Hildchen Normalität.
Aber ihr Schlafverhalten war nicht normal.
Nicht nur, dass sie tagsüber keine Ruhephasen mehr forderte und brauchte, fing sie nun an, auch abends nicht mehr schlafen zu wollen. Trotz liebevoller Rituale mutierte Hildchen zum Wolfsjungen, das zwar nicht den Mond, aber mich anheulte, sobald es Zeit wurde, ins Bett zu gehen. Bald graute allen Beteiligten vor dem Abend, Vater, Mutter, Kind. Bis Hildchen eingeschlafen war, vergingen Stunden.Mit den Jahren verschlimmerte sich der Zustand, führte zu Unverständnis, Frustration und dem Versuch aller möglichen, teils fragwürdiger Maßnahmen, die ich mir verzweifelt aus Elternforen im Internet zusammensuchte. Wir versuchten es mit pädagogisch wertvollen Gute-Nachtgeschichten, mit Nachtlicht und ohne, Liedern, Massage, Gedankenreisen, Kuscheln, Ritualen, Meditation und sogar Kinder-Einschlaf-Tee aus der Drogerie. Letzteres mit dem Ergebnis das Hildchen das erste und einzige Mal in ihrem Leben ins Bett pinkelte, weil ich sie genötigt hatte, eine ganze Tasse Tee vor dem Schlafengehen auszutrinken. Irgendwann nahmen wir an einer Schlafstudie teil, bei der regelmäßig ausgewählte Bücher vorgelesen wurden, die das abendliche Loslassen der Kinder fördern und das Einschlafen mit positiven Gefühlen verknüpfen sollten. Die Betreuerin der Studie sagte uns im Vorgespräch, dass Kinder eine gewisse Menge an Schlaf dringend benötigen, um die Entwicklung der Plastizität des Gehirns zu gewährleisten. Hildchen kam schon seit Jahren nicht mehr auf diese Stundenzahl, aber entgegen aller Statistiken entwickelte sie sich prächtig, sie wuchs, war wach, klug und aufmerksam. Solange das der Fall war, so die Ärztin, sollten wir uns keine Sorgen zu machen. Es gebe nun mal Menschen, die mit wenig Schlaf auskommen. Von mir hatte Hildchen das Hallo-Wach-Gen übrigens nicht. Ohne ein Minimum von acht Stunden Schlaf bin ich körperlich und geistig nicht mal in der Lage, mir eine Tasse Tee einzugießen.

 

Haben wir als Eltern versagt?

Die Einschlafprobleme begleiten uns nun seit mehr als fünf Jahren. Den Gedanken, dass die Problematik auf unser elterliches Scheitern als Einschlafbegleitung zurückzuführen ist, habe ich mittlerweile abgelegt. Hildchens Bruder, von den gleichen, vermeintlich unfähigen Eltern zu Bett gebracht, zeigt derlei Probleme nicht. Bis er drei Jahre alt war, wurde mittags und abends an der Brust getrunken, irgendwann „Fertis“ genuschelt, zur Seite gedreht und mit Schorsch Wutz im Arm weggedöst. Mit dem Ende der Stillzeit und gesteigertem Satzbau entwickelte sich das Ritual, dass Oski Koslowski sich nach der Gute-Nachtgeschichte, einer ausgiebigen Runde Kuscheln und Nasenspitzen aneinander reiben, müde zur Wand dreht. „Ich schlafe jetzt, Mama.“ Und das tut er zuverlässig. Binnen weniger Minuten. Ein Mann, der zu seinem Wort steht. Vielversprechend.
Unbeeindruckt vom unkomplizierten Verhalten ihres Bruders heulte und lamentierte Hildchen, sobald sie an der Reihe war, mit Schlafanzug anziehen, Zähneputzen, Gute-Nachtgeschichte lesen und ins Bett krabbeln.
„Ich kann nicht einschlafen, Mama! Ich bin nicht müde!“
„Aber ich, Hildchen“, sagte ich dann erschöpft. „Ich bin sehr müde.“
Nicht selten ging ich vor meiner Tochter ins Bett. Dass sie dann doch irgendwann in den Schlaf gefunden hatte, merkte ich nur daran, dass ich sie morgens wieder wecken musste. Manchmal aber nicht mal das. Dann saß sie schon wieder fidel im Zimmer, lauschte einem Hörspiel und fertigte irgendwelche mikroskopisch kleinen Gemälde auf Papierschnipseln an. Egal, wie sehr wir sie auslasteten, ob sie beim Fußballtraining dem Ball hinterher gehoppelt oder beim Tanzen durch die Gegend gehüpft war, egal, ob wir einen ganzen Tag bei brütender Hitze im Freizeitpark verbrachten – Hildchen stayed awake.
All unsere Hoffnungen ruhten auf dem Schulbeginn. Die Umstellung, die neue Umgebung, die geistige Herausforderung, all das musste doch dazu führen, dass dieses Kind endlich einmal müde wurde. Aber nichts. Ab und an sind kleine Ausrutscher dabei, da schlummert sie aus Versehen schon um Neun. Aber in der Regel hören wir sie um elf Uhr noch in ihrem Zimmer rumoren. Immerhin müssen wir nun nicht mehr stundenlang daneben sitzen, nur die Tür soll offen bleiben und wir ab und an nach ihr schauen. Dann liegt sie, umrahmt von ihren Kuscheltieren, im Bett und winkt uns freundlich zu.
Seit kurzem bereichert eine Fellnase unsere Familie. Hildchen steht um halb sechs auf, um den Mann bei der ersten Gassirunde zu begleiten. Gut gelaunt und in Plauderlaune. Manchmal macht mein Kind mir Angst. Wer so früh schon eine derartige Fröhlichkeit zur Schau stellt, ist doch irgendwie verdächtig, oder? Schlicht nicht von dieser Welt. Immerhin hoffen wir Hildchens minimales Schlafpensum irgendwann zu unseren Gunsten nutzen zu können. Sobald sie alt genug ist, kann sie abends und morgens gerne den Hund zum Pinkeln ausführen. Sie ist ja eh wach. Und dann können die Beiden zusammen den Mond anheulen, wenn ihnen danach ist. Ich schlafe derweil.