Sobald im November das erste zarte Grün der Weihnachtsbäumchen sanft die Äste nach unseren Wohnzimmern ausstreckt, bestücke ich Adventsgestecke, inspiziere den Kugelvorrat auf dem Dachboden, fülle Adventskalender und die ersten Glitzersterne baumeln an den Fenstern, noch ehe die letzten Blätter von den herbstkahlen Bäumen getrudelt sind. Weihnachten beginnt bei mir früh und intensiv.

Das muss so sein. Um dem Schicksal die Stirn zu bieten.

Weil Weihnachten überfrachtet ist mit Erinnerungen. Mit glockenhellen und unbeschwerten Erinnerungen meiner Kindheit, mit torfschwarzen und lähmenden aus der dunklen Zeit. Weil die meisten Weihnachtsfeiern meines 37 jährigen Lebens unvergesslich sind. Auf die schönste und auf die grausamste Weise. Und weil ich will, dass all das Schöne überwiegt.

Meinen Eltern ist es gelungen wunderbare Weihnachtsmomente in meine Erinnerungen zu pflanzen, die so warm und kerzenlichtgelb sind, dass mir dieses Fest das liebste im Kalenderjahr ist. Unzählige Erinnerungen flackern auf, wenn ich an die Weihnachtsfeste meiner Kinder denke, einem Film gleich, der begleitet wird von Düften, Geräuschen und Emotionen. Die lange Fahrt mit meinem Vater durch verschneite Landschaften, um bei einem befreundeten Förster einen Baum zu schlagen. Der Strohkranz meiner Mutter mit den vier rosa Stumpenkerzen und schimmernden Samtschleifen auf dem Tisch. Der moosgrünen Adventskalender mit 24 Filzsäckchen, geschmückt mit aufgenähten Weihnachtsmotiven, am schönsten das letzte Säckchen, auf dem Maria und Josef ihr kleines Kind in der Krippe betrachten. Der Geschmack der Baumkuchen-Plätzchen meiner Mutter. Der Film “Das letzte Einhorn” vor dem Aufbruch in die Kirche zur Kindermette. Die tiefe Stimme von Freddy Quinn auf Schallplatte, der mit uns gemeinsam “Stille Nacht, heilige Nacht” sang.

Weihnachten ist tief eingraviert als eine Vielzahl kostbarster Erinnerungen in die Ringe meines Lebensbaumes, so tief, dass ich schon in der Phase der Familienplanung den festen Vorsatz hegte, meinen zukünftigen Kindern die selbe Butterstollenromantik angedeihen zu lassen, die ich als kleines Pferdeschwanz-Mädchen erleben durfte. Als nach langer Zeit des Wartens mein erstes Kind im Bauch strampelte, schien sich alles ganz wunderbar zu fügen. Im Mutterpass stand als Geburtstermin Mitte November, das erste Weihnachtsfest würde ich also mit winzigem Menschlein auf dem Arm unter der Tanne verbringen. Glücklich. Eine Mama. Mit kugelrundem Babybauch pilgerte ich durch die Weihnachtsmärkte sämtlicher Möbelhäuser, schleppte Krippen, Kugeln und Baumanhänger in unsere schon Ende Oktober in weihnachtlichen Glanz getauchte Wohnung. Alles in Weiß und Silber. Wie der erste Schnee mit ein bisschen Gefunkel dazwischen. Am Tag vor dem errechneten Geburtstermin stand ich in der Mehl bestreuten Küche und klatschte Unmengen an Plätzchen auf Backbleche. Ich war förmlich trunken vor Weihnachtsglück. In dieses Glück sollte nun mein erstes Kind hinein geboren werden.

Dann sagte das Schicksal ganz frech: Ätsch.

Mein Sohn kam zur Welt, mit seltsam deformiertem Fuß, irgendetwas stimmte nicht mit ihm. Unzählige Untersuchungen brachten immer neue Schreckensmeldungen mit sich, was in Noahs kleinem Körper nicht in Ordnung war. Weihnachten rückte weit weg, plötzlich drangen statt Weihnachtsliedern nur noch Diagnosen und Prognosen in meine Ohren. Noch tappten die Ärzte selbst im Dunkeln, zu unspezifisch all die Symptome. Kurz vor Weihnachten entließ man uns nach Hause. An den Füßen meines Sohnes klackerten schwere Gipse, die seine Fehlstellungen korrigieren sollten. Wir brachten ihn heim, in unser Zuhause, das schon so weihnachtlich geschmückt war, dass es fast weh tat, nicht unbekümmert diese besondere Zeit mit unserem Kind erleben zu dürfen. Mein Mann überraschte uns mit einem wunderschönen Baum, hochgewachsen bis zur Decke, duftend und bald herrlich geschmückt. Ganz in Weiß und Silber, so wie ich es mir gewünscht hatte.

Doch dann der zweite Arschtritt des Schicksals.

Statt den Heiligabend mit meinem Sohn im Kreise der Familie zu verbringen, mussten wir in die Klinik, ein Infekt ließ Noah schwer atmen. Alles fühlte sich so falsch an. Es war keine „Stille Nacht“ auf der Intensivstation. Noah lag nicht in meinem Armen, sondern verkabelt in einem Wärmebettchen. Meine Tränen schwemmten jegliches Weihnachtsgefühl aus mir heraus wie Starkregen und ließen nur aufgewühlte Erde zurück. Nächstes Jahr, so flüsterte ich ihm in seinem Bett zu, nächstes Jahr, feiern wir richtiges Weihnachten.

Das Jahr mit Noah war wunderbar und grausam zugleich. Wunderbar, weil er ein herrlich lustiges Bürschchen war, das immer einen Grund fand, krächzend zu lachen, das knutschen und schmusen konnte, das genau der Sohn war, den ich mir immer gewünscht hatte. Grausam, weil sich die schlimme Diagnose Loeys-Dietz-Syndrom bestätigte, weil Operationen gemeistert werden mussten, weniger gefährliche an den Füßen und hoch riskante am offenen Herzen.

Wir strichen die Tage im Kalender ab und plötzlich war der Dezember nicht mehr weit.

Diesmal wollten wir uns das Weihnachtsfest von nichts und niemandem verderben lassen. Ich hatte es Noah ja versprochen. Das erste, richtige Weihnachten mit Kind. Mit einem einjährige , lockenköpfigen, staunenden Noah unter dem Baum. Endlich eigene Familienerinnerungen zaubern.

Der November verabschiedete sich und ließ einen weiteren Infekt zurück, ein beschissenes Geschenk, das uns erneut unerwartet im Krankenhaus landen ließ. Trotzig bot ich diesem Rückschlag die Stirn, wollte mir die Vorweihnachtszeit nicht erneut verderben lassen. Unbeirrbar schleppte ich seinen Adventskalender in die Klinik, freute mich, wenn er sich freute, die Säckchen zu öffnen, in denen ich Tiere aus dem 123 Playmobil Zoo versteckt hatte. Zum Einschlafen summte ich ihm meine Lieblingsweihnachtslieder vor. Stille Nacht natürlich. Und Leise rieselt der Schnee. Little Drummer Boy. Unser Optimismus wurde belohnt, noch vor Weihnachten wurden wir entlassen. Wieder überraschte uns mein Mann mit einem Weihnachtsbaum, diesmal einer tiefgrünen Schwarzwaldtanne, selbst geschlagen, kerzengerade gewachsen, wunderschön.

Am 22. Dezember trällerte ich beim Bügeln gerade mit Dolly Parton ihr Home for Christmas-Album, als mein Mann mich anrief, der mit Noah bei der Krankengymnastik war.

Dieser Anruf verändert alles.

Noah sei zusammengebrochen, sagte mein Mann. Der Notarzt sei da. Man reanimiere ihn gerade.

Eben hatte ich noch über die Auswahl der Salate für das Fondue an Heiligabend nachgedacht und welches Hemd ich Noah zum Fest anziehen würde. Im nächsten Moment bestellte ich ein Taxi und ließ mich zu meinem Kind fahren. Es schneite.

Zwei Stunden später legte mir ein Arzt meinen Sohn für die letzten Schläge seines kleinen Herzens in die Arme.

Zwei Tage später an Heiligabend hockte ich in den Trümmern meines Lebens, ohne Sohn, mit einem perfekten Weihnachtsbaum, den ich am liebsten mitsamt Schmuck aus dem Fenster werfen wollte, weil mich seine Festlichkeit verhöhnte. Weil mein Leben zerstört war. Für immer.

Wieder verging ein Jahr, wieder wollte Weihnachten gefeiert werden. Irgendwie. Mein sonst so verlässliches Gedächtnis erspart mir Erinnerungen an dieses Fest. Ich glaube wir hatten einen Baum. Einen ganz kleinen. Wie zum Trotz. Ob er schön war? Ich weiß es nicht. Letztlich spielte es keine Rolle, denn kein Kind war da, dass sich an diesen Baum erinnern würde.

Im Jahr darauf lebten wir wieder in der Heimat, Wilde Hilde war gerade drei Wochen alt. Und erstmals keimte sie wieder in mir, diese alte Sehnsucht nach dem zimtigen Zauber meiner Kindheit, den ich meinen Kindern weitergeben wollte. Bei Noah war es mir nicht vergönnt gewesen. Mit meiner Tochter, die so gesund war, das ihre Bäckchen rosig leuchteten, sollte alles anders werden. Und so ist es geblieben.

Ich habe mir die Freude an Weihnachten zurück erkämpft, mit schmutzigen Händen aus der Schlammlawine gegraben, akribisch sauber geputzt und glänzend poliert. Narben sind geblieben, Kratzer und dunkle Schatten. Damit muss ich leben. Aber der unbändige Wille mir selbst, meiner Familie und nicht zuletzt meinen Kindern Weihnachten wieder den Zauber einzuhauchen, den ich kenne und liebe, dieser Wille hat über alle Trauer gesiegt.

Und so wird unser Zuhause im Dezember in ein glockenbehangenes, sternefunkelndes, lichterkettenleuchtendes Weihnachtsparadies verwandelt. Die Kinder dekorieren ihre Fenster, tragen Strickpullis mit weihnachtlichen Motiven, in den Schnellwahltasten des Internetradios sind Weihnachtssender gespeichert, riesige Adventskalender baumeln im Flur, Tannengirlanden schlängeln sich um Gardinenstangen und wir singen schon vor dem Frühstück In der Weihnachtsbäckerei.

Vielleicht übertreibe ich. Vielleicht ist es von allem ein bisschen zu viel.

Aber ich will viel. Viel Weihnachten. Soviel, dass es selbst für Noah reicht. Der nie Weihnachten feiern durfte. Unser Haus soll so hell im Weihnachtsglanz erstrahlen, dass er es sieht. Wo immer er auch ist.