Lotte ist verschwunden.

Lotte, ein kleines Stoffschwein in perfekter Kinderhand-Knuddel-Größe, nicht sehr spektakulär im Design, eher schlicht in Rosa und Grau gehalten,mit kleinem Ringelschwanz am Po. Wilde Hilde durfte sich Lotte beim Schweden unseres Vertrauens aussuchen, nachdem sie einen Arztbesuch tapfer und tüchtig gemeistert hatte.

Lotte hüpfte bei der ersten Begegnung in Hildchens Herz und wich ihr nicht mehr von der Seite. Beim Schlafen kuschelte sie fest in Hildes Arm, beim Spazierengehen wurde sie im wärmenden Jackenkragen verstaut, um keinen Schweineschnupfen zu riskieren, während des Tanztrainings lehnte sie an der Trinkflasche auf dem Turnhallenboden, auf dem Weg in den Kindergarten wurde sie tief im Rucksack neben der Brotzeit verstaut. Plagte Hilde ein Kummer, rief sie nach Lotte. „Ich will Lotte“ zitterte dann ihr Stimmchen und das Rüsseltier vermochte alleine durch sein kuscheliges Fell sämtliche Tränen zu trocknen.

Dann jedoch die Katastrophe an der Kuscheltierfront.

Nach einem Besuch im Supermarkt, war Lotte plötzlich unauffindbar. Eben saß sie noch mit Brezelbrösel übersät zufrieden im Einkaufswagen, nun war sie verschwunden. Der Mann durchkämmte den Supermarkt, nervte die Angestellten mit einer Suchfahndung, leuchtete mit der Taschenlampe in jeden Winkel unseres Wagens. Das Ergebnis niederschmetternd.

Lotte war weg.

Wilde Hildes Kummer wuchs bis zum Abend ins Unermessliche. Die bekannten „Ich will Lotte“-Rufe kippten in wehleidiges Klagen, die Tränenströme kaum beherrschbar. Die Ansage „Ohne Lotte kann ich nicht schlafen“ blieb keine leere Drohung sondern wurde konsequent umgesetzt. Nach einer unruhigen Nacht fasste Wilde Hilde das Dilemma sehr pragmatisch zusammen: „Ohne Lotte geht gar nichts.“

Mein Mutterherz schmerzte angesichts soviel Kinderleid. Das Weinen meiner Tochter im Ohr bat ich eine Freundin, die ohnehin vorhatte zu Ikea zu fahren, einen Schweinersatz zu besorgen. Noch während die Zusage über WhatsApp eintrudelte, spürte ich den Impuls das baldige Erscheinen der Ersatz-Lotte möglichst kindgerecht verpacken zu wollen.

Kein schnödes „Kind, dein Schwein ist futsch, ich hab dir ein neues besorgt“.

Klar, das war die nackte Wahrheit, aber für mein Mädchen wollte ich etwas sanfteres, vielleicht magisches. Ein Schweinchen, dass sich verlaufen hatte, aber Wind und Wetter trotzte, um zu seiner geliebten Schmuse-Hilde zurückzukehren.

Weil in Hildes Welt dieses kleine Kuscheltier mehr ist, als ein zusammengenähter Plüschhaufen. Weil Lotte trösten kann. Lotte spricht und nur Hildchens Ohren verstehen, was sie sagt. Solange mein Mädchen sich in dieser magischen Phase ihrer Entwicklung befindet, werde ich mich hüten sie zu entzaubern. Das wird irgendwann selbst passieren. Stofftiere werden aufhören zu sprechen. Meine Stofftiere sind alle verstummt.

Wann genau sie ihre Stimmen verloren haben, weiß ich nicht mehr. Auch nicht, wann diese Magie der Kindheit geendet hat. Jetzt, wo ich selbst Mutter bin und meine Kinder beim Heranwachsen begleite, darf ich wieder ein bisschen teilhaben an den sprechenden Kuscheltieren, unsichtbaren Elfen und -ganz aktuell- der Existenz des Christkindes. Und ja, ich spüre sie, diese Sehnsucht nach der zauberhaften Welt meiner Kindheit. Besonders jetzt zur Weihnachtszeit mag ich mich zurück träumen.

Und ich will, dass meine Kinder denselben Zauber spüren, der wie Ahoi-Brause im Bauch kribbelt, wenn an Heiligabend das Glöckchen im Wohnzimmer läutete und und mein Vater flüsterte, dass eben das Christkind vorbeigeflogen sei.

Ich will das ihre Augen glänzen, wenn die Lichter am Weihnachtsbaum leuchten und sich in den glitzernden Kugeln widerspiegeln. Ich will, dass sie dieses Gefühl im Bauch spüren, wenn die ganze Familie sich fest an den Händen hält und im Schein der Kerzen und Lichter „Stille Nacht, heilige Nacht“ singt, dieses Gefühl, das tief in die Eingeweiden dringt und fast ein bisschen weh tut, weil man soviel LiebeFreudeAufregung spürt.

Ich will Feenstaub verstreuen. Die Phantasie beflügeln.

Ich will furchteinflößenden Nachtmonster unter lautem Gebrülle mit dem Regenschirm aus dem Haus jagen, damit mein Mädchen ruhig schlafen kann. Soll Hilde doch noch ein paar Jährchen glauben, dass Weihnachtswichtel im Wolkenreich mit roten Wangen ihre Holzeisenbahn zusammen geleimt haben. Wem schadet das denn?

Sollte ich meine Kinder nicht lieber durch ihre magische Phase begleiten, als sie zu zerstören und auf die nüchterne Realität zu pochen?

Die Eisenbahn hat Papa bei amazon bestellt. Nachtmonster gibt es nicht. Den Nikolaus übrigens auch nicht.“

Macht das Hildes Kindheit schöner? Ehrlicher? Authentischer?

Hirnforscher haben herausgefunden, dass man sich besonders gut an Erlebnisse erinnert, an die Emotionen gekoppelt sind. Später genügt dann ein kleiner Trigger, der Duft von Tannennadeln beispielsweise, um die Erinnerung samt Gefühlen wieder spürbar zu machen. Bei mir hat das in meiner Kindheit hervorragend funktioniert. Sobald an Heiligabend die Brühe für das Fondue über mehrere Stunden auf dem Herd köchelt, kribbelt sie wieder, die Ahoi-Brause. Dann bin ich wieder Kind, assistiere meinem Vater bei den Lichterketten, balanciere auf dem Stuhl um den Stern an die Spitze der Tanne zu heften. Und warte ungeduldig auf das Christkind.

Wilde Hilde wird dieses Jahr ebenfalls den Duft von Brühe in der Nase haben, wenn sie mit aufgeregten Hummeln im Hintern am 24. Dezember durch das Haus flitzt, aus ihrem Kinderzimmerfenster schaut, um Ausschau zu halten nach dem Christkind. Ihre Lotte fest im Arm. Die ist nämlich wieder zu ihr zurückgekommen. Nachdem sie bei unseren Freunden geklingelt und darum gebeten hat, man möge sie doch bitte zu ihrer Wilden Hilde zurückbringen.

Ein bisschen Magie darf sein.