Manchmal passieren schlimme Dinge. Manchmal holt das Schicksal Schwung und schleudert eine Keule durch ein ahnungsloses Leben, hebt es aus den Fugen, einen kurzen Moment nur und lässt es krachend zu Boden schmettern. Zurück bliebt ein Scherbenhaufen. Ein Scherbenhaufen, in dessen Chaos einer fehlt.

Der Partner. Die Mutter. Das Kind.

Solche Dinge passieren. Immer wieder. Und als ob diese Arschtritte des Universums nicht schon schlimm genug wären, als ob all der Schmerz und die Trauer nicht schon Herausforderung genug sind, tauchen in den düstersten Zeiten immer wieder Menschen auf, die sich zur Bewertungsinstanz der Trauer berufen fühlen. Die sagen, was richtig ist. Was falsch. Geschmacklos. Oder grenzwertig.
Sie stehen am Rand des Scherbenhaufens – als Zuschauer, mit kritischem Blick und beurteilen eine Trauer, die ihnen nicht gehört. Es steht ihnen nicht zu, meist fragt sie auch niemand um ihre Meinung. Sie sehen es als ihre Pflicht, in ihrer Rolle als Verwandter, Freund, Nachbar oder Kollege Ratschläge über angemessene und gesunde Trauer zu geben mit dem Ziel, diese möglichst schnell zu beenden. Denn Trauer muss überwunden werden, um weitermachen zu können. Bussines as usual.

 

Trauer ist individuell

Jeder lebt und erlebt Trauer anders. Sie kann schwarz sein und endlos, dumpf und still oder kreischend und ohrenbetäubend. Trauer kann ein Tier sein, dass dich anfällt, gefangen hält mit festem Griff, sie kann ein Gewand sein, das dich umhüllt, bedeckt, erdrückt. Trauer kann dich brüllen, toben, aber auch verstummen lassen. Man kann Trauer schlucken, damit sie tief verborgen und unbemerkt rumort. Trauer lässt sich wiederkäuen, wieder und wieder mit ihrem widerlichen Geschmack nach Leid und Kummer. Trauer kann sich öffentlich ausbreiten, in sozialen Medien ihren Platz finden oder sich auf einen kleinen privaten Rahmen beschränken. Trauer wird von Männern anders gelebt als von Frauen, Kinder trauern nicht wie Erwachsene.

Jede Trauer hat ihre Berechtigung. Es gibt kein richtig oder falsch. Es existiert keine Instanz, die reglementiert, ob die Trauer normal ist oder zu extrem, zu extravagant oder geschmacklos.
Trauer ist für Außenstehende nicht zu ermessen und kann nicht nachgefühlt werden. Vermeintlich tröstende Sätze wie „Ich weiß wie du dich fühlst“ werden als Ausdruck von Empathie ausgesprochen und bewirken doch oft nur das Gegenteil von dem, was sie erreichen wollen. Sie wollen Beistand vermitteln und doch verstehen sie Betroffene meist als Anmaßung. Niemand, der nicht die gleiche schicksalshafte Erfahrung gemacht hat, kann wirklich nachfühlen was ein trauernder Mensch fühlt. Selbst bei Menschen, die das gleiche erlebt haben, herrscht ein individuelles Trauerklima und keines gleicht dem anderen.

Obwohl mein Mann und ich vor sieben Jahren das gleiche Kind betrauert haben, unterschied sich seine Trauer massiv von meiner. Kein Weg war der falsche. Es gab kein Maß, kein zu viel, kein zu wenig. Sein Weg mit unserem Verlust umzugehen war nicht meiner und umgekehrt. Wir haben schnell gelernt, den anderen in seiner Trauer zu respektieren, nicht zu vergleichen und nicht zu bewerten. Außenstehenden war es dagegen leider oft nicht möglich, das nötige Maß an Respekt aufzubringen.
In der Trauer um mein Kind wurde ich oft mit unaufgeforderten Bewertungen konfrontiert. Manche ließen mich sprachlos zurück, manche wütend, manche tief verletzt.

 

Meine Trauer gehört mir

Ich habe intensiv getrauert, meinen Sohn heftig beweint, täglich, über Monate hinweg. Wenn ich morgens keine Kraft hatte aufzustehen, bin ich nicht aufgestanden. Wenn ich nicht telefonieren wollte, bin ich nicht ans Telefon. Wenn ich nicht essen wollte, habe ich nicht gegessen. Wenn ich weinen musste, habe ich geheult bis mir die Augen so sehr brannten wie mein kaputtes Herz. Wenn ich einfach nur auf dem Boden liegen wollte, den verwaisten Kuschelhasen im Arm, tat ich genau das.

Und dann gab es sie, die Menschen, die meinten, ich müsse aufstehen, telefonieren, essen, gegen die Tränen ankämpfen. Menschen, die meinten zu wissen, was in dieser Situation das Beste für mich wäre, was mir helfen würde, den Schmerz zu bewältigen. Einen Schmerz, den sie gar nicht kannten, weil es mein Schmerz war, meiner ganz allein, der in mir brannte wie Feuer in meiner Seele. Menschen, die kluge Ratschläge bereithielten wie „Du musst unter Leute“ und „Du musst arbeiten gehen, um dich abzulenken“.
Ich wollte mich nicht ablenken.
Ich musste lernen zu begreifen was passiert war. Mich neu orientieren in diesem Leben, das nicht mehr meines war, das ich so nie gewollt hatte, dieses grausige Leben ohne Kind, ohne meinen Sohn.
Ich musste lernen, mich wieder zurechtzufinden, meine Füße wieder auf den Boden zu bekommen, meine Gefühle auszuhalten, den Schmerz, die Sehnsucht, die Ohnmacht, die Hoffnungslosigkeit, die Endgültigkeit.
Ich musste mit den Bildern in meinem Kopf fertig werden. Bildern, in denen mir ein Arzt den schlaffen Körper meines Kindes in die Arme legt, wo sein Herz aufhört zu schlagen. Bilder, in denen ich seinen toten Körper wasche. Bilder, die bis heute in Wellen an die Oberfläche meiner Erinnerung gespült werden und nicht aufhören mir den Atem zu verschlagen, auch jetzt noch, nach fast sieben Jahren.
Ich musste lernen mit all dem fertig zu werden und wenn mich jemand fragte, wie es mir ging, antwortete ich wahrheitsgemäß „Nicht gut“ oder „Schlecht“. Diese Antworten wollte niemand hören. Ich bekam gesagt, dass ich doch bitte so antworten sollte, dass der Fragende sich nicht unwohl fühlt. Lieber lügen, als eine unangenehme Wahrheit auszusprechen, die zu peinlicher Stille und Unbehagen führt. Es ist mir schwer gefallen in meinem Umfeld so zu trauern, wie es sich instinktiv richtig angefühlt hätte. Das quält mich noch immer.

Ich weiß, dass trauernde Menschen hilflos machen. Ich weiß, dass Außenstehenden oft die richtigen Worte fehlen. Aber ich weiß auch, dass der Trauernde diese Hilflosigkeit nicht mittragen kann und will. Dass er nicht soufflieren kann, welche Worte trösten können. Das ist nicht zu bewältigen, wenn man mittendrin steckt im Sog aus Verzweiflung.

Aber es hilft, wenn Trauer respektiert wird, mit all ihren Facetten, so seltsam sie auch aussehen mögen. Wenn sie den Raum bekommt, den sie braucht, um erträglich zu werden, irgendwann. Wenn sie nicht bestaunt, beäugt, kritisiert wird. Wenn sie nicht mit rationalen Ratschlägen beschränkt wird in ihren unberechenbaren Sturmausläufern. Sie ist nicht rational. Sie ist individuell. Unantastbar.
Lasst uns einfach trauern.