Es gibt zwei Tage im Jahr, die mich immer wieder auf emotionale Talfahrt schicken. Die so schwer zu ertragen sind, weil sich Gefühle ihren Weg bahnen, die sonst einigermaßen kontrollierbar sind. Diese Tage folgen dicht aufeinander und kaum sind die Tränen des einen Tages getrocknet, kullern schon die nächsten. Zwischen Noahs Geburtstag und dem Tag, an dem er mich das letzte Mal angelächelt hat, liegen 25 Tage. 

Auf dem weißen kleinen Kreuz an seinem Grab stehen sie. In schwarzen Lettern.

17.11.2010

22.12.2011

Diese Daten haben tiefe Kerben in mein Leben geschlagen, schmerzhaft vernarbte Wunden, die immer wieder aufplatzen, wie wild bluten, pulsieren, hämmern und einfach nur weh tun.

Der Tag an dem mein erstes Kind zur Welt gekommen ist, der Tag, der mich zur Mama gemacht hat, ist unvergesslich. Als Erstgebärende war ich vollkommen überrollt von der Heftigkeit der Geburt, dieser Urgewalt, die meinen Körper beutelte und mich erschöpft und zerfetzt zurückließ. Aber immerhin reich belohnt mit einem unfassbar süßen Baby.

Das nur leider nicht ganz gesund war.

Und das nur ein Jahr alt werden durfte. 

Noahs ersten Geburtstag feierten wir im Schwarzwald, gemeinsam mit meinen Eltern, extra angereist zu Ehren des kleinen Geburtstagskindes. Eine Schwarzwälderkirschtorte thronte mit Sahnehäubchen auf dem Tisch, ein Bananenkuchen daneben, eine einzige Kerze flackerte über einer dicken Puderzuckerschicht. Der hölzerne Geburtstagszug rollte. Winnie Puh-Luftschlangen kringelten sich zwischen den Tellern, auf denen bunte Servietten leuchteten. Noah staunte an diesem Tag, er staunte über das glitzernde Geschenkband an seinen Paketen, das er durch seine Finger gleiten ließ, er staunte über den vierkehligen, schiefen Gesang, staunte über das Flackern der Kerze, die er auspusten sollte. Staunte über das neue Bobby Car, auf dem er stolz hockte und nicht wusste, was seine Beinchen anstellen sollten, um vorwärts zu rollen.

Ich erinnere mich an Momentaufnahmen, erinnere mich, dass die Sonne schien, erinnere mich an den langen Spaziergang an der Murg. Ich weiß, dass ich glücklich war, glücklich den ersten Geburtstag meines Sohnes feiern zu dürfen.

Jedes Jahr die selbe Herausforderung: wie überstehen wir das?

Wenn nun im Jahreslauf der 17. November auf dem Kalender näher rückt, denke ich an diesen ersten Geburtstag zurück. Die Unbeschwertheit. Das Gefühl von Glücklichsein.

Die Unbeschwertheit ist unwiderruflich verloren. Das Glück habe ich mit viel Mühe wieder gefunden. Und doch stehe ich jedes Jahr vor der Herausforderung, was ich mit Noahs Geburtstag anfangen soll.

Eine Feier ohne das Geburtstagskind? Unmöglich.

Die Bedeutung des Tages ignorieren? Undenkbar.

Im Laufe der letzten sechs Jahre habe ich einen Weg gefunden, der sich richtig anfühlt. Richtig im Sinne von erträglich.

Ein Tisch wird gedeckt.

Mal steht Kuchen darauf, mal Pizza.

Es gibt keine Luftschlangen. Aber der Geburtstagszug trägt die wachsende Zahl an Kerzen.

Wir kaufen Ballons, die wir ihm in den Himmel schicken.

Wir sitzen zusammen mit seinem Paten und der Familie und lachen ein bisschen. Wir weinen. Wir weinen so sehr, wenn wir uns das Video anschauen, das mein Mann aus all den Kamerasequenzen von Noahs Leben zusammengeschnitten hat, dass uns die Kinder verwundert ansehen.

Es ist keine Feier.

Es ist eine Nicht-Feier.

Wichtig ist nur die Bedeutung dieses Tages nicht unter den Tisch fallen zu lassen. Nicht alleine zu sein. An Noah zu denken. Gemeinsam.

Der Ablauf dieses Tages hat sich in den letzten Jahren eingespielt. Ritualisiert. Rituale geben Sicherheit. Stützen, wo Halt fehlt. Sind Wegweiser durch das Wirrwarr der Gefühle. Glaubte ich zumindest.Ich glaubte mich gewappnet, den Tag zu überstehen.

Wenn du dich zu sicher glaubst

Sechs Jahre hatte ich Zeit zu üben, stark zu sein. Zu meinem Mann, der sich bislang immer frei genommen hat, sagte ich, er könne zur Arbeit gehen. Freitags ist nur ein halber Tag. Den werde ich schon wuppen. Eingebunden in den Alltagstrott, Wilde Hilde in den Kindergarten bringen, die Nicht-Feier vorbereiten. Raclette soll es geben. Ein bisschen Gemüse schnippeln. Den Tisch hübsch decken. Einen Teller für Noah mit dazu stellen. Erstmals wird der Geburtstagszug nicht zum Einsatz kommen. Seine Zahlen enden mit der 6. Stattdessen hatte ich ihm eine Kerze gebastelt. Die wird brennen. Auf dem Kamin. Neben der Geburtstagskarte, selbst gestaltet und beschrieben mit Muttergedanken. Stühle rücken. Getränke kalt stellen. Vorbereitungen.

Alles kein Problem.

Doch der Alltagstrott ließ mich im Stich. Verkrümelte sich einfach und ließ viel Raum für Gedanken und Emotionen. Den Tentakeln einer Krake gleich umschlangen mich sonst fest eingetütete Gefühle. Sehnsucht das stärkste von ihnen. Ich musste mir meine Lieblingsmütze aus dem Schrank holen. Mich behüten. Schützen. Vor den Gedanken, die sich in meinem Kopf aufblähten:

Ich darf einen siebenjährigen Noah im Arm halten, ihm über die blonden Locken wuscheln und „Happy Birthday mein Großer“ ins Ohr flüstern, das er zum Einschlafen immer so gerne geknetet hat. Sieben Kerzen anzünden und ihn beim Auspusten beobachten.

Die Tentakeln zurrten sich so fest, dass sie mir die Luft abschnürten. Es war zu still im Haus. Wilde Hilde im Kindergarten und Oski Koslowski für die Dauer eines Schlummers im Bett. Heulend und nach Luft schnappend rief ich meinen Mann an und bat ihn nach Hause zu kommen. Allein sein funktionierte nicht. Nicht an Noahs Geburtstag.

Erst in der Gegenwart meines Mannes und der Kinder beruhigte ich mich. Ein Besuch auf dem Friedhof. Sieben kleine, weiße Rosen auf dem Grab. Wilde Hilde, die ihrem Bruder „Happy Birthday“ singen will. Sogar Oski Koslowski summt mit, als der kalte Novemberwind unseren Gesang über den kahlen Friedhof trägt.

Überhaupt Hilde. Mein Hildchen.

Ich vermisse Noah“, sagt sie.

Und dann, am späten Abend, als wir gemeinsam Noahs Luftballon in den dunklen Nachthimmel steigen lassen, verziert mit einer selbstgemalten Kerze seiner Cousine, übersät mit unzähligen Küssen und guten Wünschen, wird Wilde Hilde ganz ruhig.

Ich möchte Noah noch etwas sagen, Mama. Mit dir zusammen. Können wir rufen?“

Natürlich können wir das. Was möchtest du denn rufen?“

Dass Noah wiederkommt.“

Ein Augenblick völliger Stille. Irgendjemand schluchzt. Ich weiß nicht wer. Mein Vater? Mein Mann?

Hildchen wartet geduldig bis ich meine Stimme wieder gefunden habe. „Okay. Lass uns zusammen rufen.“

Wir zählen bis drei. Rufen unsere Bitte in den nachtschwarzen Himmel. Hilde wartet wieder. Zuckt die Schultern. „Der Noah hört ja gar nicht.“

Ich glaube schon, dass er dich hört. Aber er kann leider nicht mehr kommen.“

Das finde ich aber traurig, Mama.“

Ja. Ich auch. Sehr traurig.“

Während die Kinder ihre Jacken und Schuhe ausziehen, verziehe ich mich in die Küche und weine. So heftig wie schon lange nicht mehr.

Weil Geburtstag ohne Geburtstagskind scheiße ist.

Weil stark sein irgendwie nicht funktioniert. 

Weil es Tentakeln gibt. 

Weil ich das alles durchmachen muss.

Alle Jahre wieder.