Was habe ich als Kind die sonntäglichen Familienspaziergänge gehasst. Weder den schier endlos weiten Feldern noch der Eintönigkeit der Wälder, in denen sich stumpf jeder Baum an den anderen reihte, konnte ich etwas abgewinnen. Statt durch Felder und Wälder zu marschieren, sehnte ich mich nach meinem Zimmer unter der Dachschräge und den geliebten Hanni-und-Nanni-Büchern. Aber meine Eltern waren unerbittlich. Und ich sehr schlecht gelaunt. Nach jedem Urlaub im Bayerischen Wald, in der Lüneburger Heide oder anderen üblicherweise sehr beliebten Wanderregionen bescheinigte mir mein Vater, dass mein genervtes Gesicht und das ewige Gemaule allen die Familienferien vergrätzt hätten. Das ausgerechnet ich, die Spaziergangsquerulantin, die Urlaubssprengerin eines Tages die sein würde, die täglich mindestens einmal zu einem Spaziergang aufbrechen würde, hätte niemand geglaubt. Am allerwenigsten ich selbst.
Der Wandel kam schleichend.
Angefangen hat es in der ersten Schwangerschaft. Mit zunehmendem Bauchvolumen fiel mein sonst dreimal wöchentlich betriebenes Lauftraining weg und sehnte ich mich nach Bewegung, nachdem Übelkeit und Erbrechen abgeklungen waren und mir wieder Energie für Bewegung übrigließen. Zeitgleich mit dem wachsenden Leben unter meinen Rippen schickte sich der Frühling an, zur Höchstform aufzulaufen – es sprießte und spross, blühte und grünte. Erleichtert, die mannigfaltigen Düfte wieder ertragen zu können und nicht bei jedem Geruchpartikel, der meine Nase streifte, kotzend über einer Papiertüte zu hängen, schnupperte ich mich durch Würzburgs Weinberge oder am Main entlang. Entzückt von der bunten Schönheit der frühlingshaften Natur (wobei auch die damalige Hormonlage für generalisiertes Entzücken sorgte), trabte ich mit der Leichtfüßigkeit einer trächtigen Stute durch die fränkische Flora und hielt Zwiesprache mit meinem ersten Kind, das mir nach unzähligen Versuchen schwanger zu werden wie ein pures Wunder erschien. Während dieser Spaziergänge fühlte ich zum ersten Mal eine mir bis dato völlig fremde Verbindung mit der Natur, war sie mir doch plötzlich Fitnessstudio, Gute-Laune-Booster und Augenschmaus in einem. Gleichzeitig spürte ich in dieser Zeit eine besonders starke Wahrnehmung meiner selbst, ein neues Ganz-bei-sich-Sein, ein Sich-mit-allen-Sinnen-Fühlen – den schnellen Atem, den sanften Puls in den Ohren, die gut durchbluteten Füße, das Spiel des Windes in den Haaren, die Wärme der Sonne auf der Haut. Ich marschierte die ganze Schwangerschaft hindurch bis zur Geburt.
Als Noah geboren wurde, änderte sich alles.
Nach vielen Krankenhauswochen auf der Intensivstation mit einem unerwartet sehr kranken Kind und einem berufsbedingten Umzug des Mannes, fand ich mich mit Baby plötzlich im Schwarzwald wieder. Eine völlig neue und faszinierende Gegend aus dichten Tannenwäldern, versteckten Weihern und friedlichen Bächen. Ich schob meinen Sohn im Kinderwagen Berge hinauf, die uns mit der Aussicht auf tiefgrüne Ebenen und dunkle Wälder belohnten, wir inhalierten den Duft der Nadelbäume, spürten das samtige Moss unter unseren Füßen und ließen die Zehen in kühle Bächlein hängen.
Die Natur und vor allem der Wald wurden zur Kraftquelle, hier stärkten wir uns für neue Krankenhausaufenthalte. Ich ließ Noah alles sehen, fühlen und hören, was sich nach Leben und Lebendigkeit anfühlte, damit er spürte, dass die Welt nicht nur aus sterilen weißen Wänden, Metallgitterstäben, dem Piepsen von Monitoren und dem Desinfektionsmittelgeruch der täglichen Blutentnahme bestand. Er durfte sehen, wie sich Wipfel in Herbststürmen biegen und knisterndes Laub zwischen seinen Fingern zerbröseln und schließlich erste Schneeflocken mit den Wimpern wegblinzeln, die ihm in die Äuglein fielen. Dann, an einem Tag, als der Schnee wie wild vom Himmel wirbelte und die Welt unter einer dicken weißen Decke versteckte, verabschiedete sich Noah leise für immer. Ich floh aus der plötzlich so bedrückend leeren Wohnung mit all den mich verhöhnenden Windelstapeln, Spielzeugkisten und Breigläschen, floh vor dem Schlafsack über dem Gitter des Babybetts, in dessen Kragen sich Noahs unverwechselbarer Duft eingenistet hatte, mein kleines Söhnchen aber nie wieder eingekuschelt schlafen würde.
Stundenlang streifte ich durch den Wald, tränkte den moosigen Boden mit meinen Tränen.
Hier hatte ich meine verzweifeltsten Momente, in denen ich dachte, selbst zu sterben würde eine Erlösung sein. Hier hatte ich meine mutigsten Momente, in denen ich entschied, weiterzuleben. Der Wald nahm mich auf, behütete mich mit langen Ästen und ließ mich im Schutz seines dichten Bewuchses umherstreifen. Als der Schnee taute und der Frühling kam, ließ ich mich zögerlich auf den Kreislauf des Lebens ein, auf das stete Wachsen und Wiederkehren. Mit den ersten Frühlingsblühern kehrte auch meine Lebensenergie Stück für Stück zurück.
Trotzdem entschieden der Wikinger und ich uns gegen den Schwarzwald – zu groß war die Einsamkeit fernab unserer Familien, zu gewaltig die Erinnerungen, zu nagend der Schmerz. Der erneute Umzug zurück nach Bayern erwies sich als richtiger Schritt raus aus der Lethargie des Trauerns. Noch bevor alle Kisten in der Wohnung ausgepackt waren, kündigte sich Hildchen mit zwei blassen Strichen auf dem Schwangerschaftstest an. Wieder war ich im März schwanger geworden, wieder kugelte ich mit den Jahreszeiten um die Wette und wieder beschenkte uns das Leben im November, dem dunkelsten aller Monate, nur zehn Tage nach Noahs Geburtstag mit einem Kind. Mit meinem gesunden Hildchen im Tragegurt entdeckte ich aufs Neue die Natur, diesmal die flachen Ebenen und Mischwälder meiner alten, neuen Heimat.
Inzwischen sind es zwei Kinder, die mit mir durch die Wälder ziehen und mich mit immer neuen Blickwinkeln und Einfällen überraschen. Da haust ein unfreundliches Wurzelweibchen im Wald, vor dem sie sich im Unterholz verstecken müssen. Der alte Holzstumpf wird zum Picknicktisch auserkoren und aus Ästen und Zweigen eine windschiefe Hütte gebaut. Hildchen und Oski Koslowski klettern verbotenerweise auf Jägersitze und halten Ausschau nach fliegenden Drachen. Unsere Stock- und Steinsammlung zu Hause lässt sich kaum noch verwalten, denn die Kinder finden immer ein Souvenir, das sie tapfer den ganzen Rückweg mit sich schleppen. Seit ein paar Monaten komplettiert Anouk, ein aufgewecktes Hundemädchen, unsere Familie und begleitet uns auf unseren Streifzügen.
Aus einem Spaziergang am Tag wurden drei.
Langweilig wird uns dabei nicht, denn der Wald steckt voller Überraschungen. Tierskelette mit klappernden Knochen, die der Hund stolz als Beute anschleppt. Kombis mit beschlagenen Scheiben am Waldrand, in dem ein Pärchen schwitzend der Waldeslust frönt. Unzählige Rehe, die Anouk jagen will, aber natürlich nicht darf und Mäuselöcher, in denen sie zwar auch nicht buddeln soll, es aber natürlich trotzdem tut. Wir entdecken scheinbar verlassene Hütten mit Spinnweben an den Fenstern und Bauwägen, in denen Tassen auf dem schmalen Tisch im Inneren stehen, als wartet das Geschirr nur auf Schneewittchen und die sieben Zwerge. Oder, was wahrscheinlicher ist, auf zurückkehrende Waldarbeiter.
Besonders während der vergangenen Monate mit seinen schier endlosen Lockdown-Wochen, war der Wald ein wahrer Segen. Mein persönlicher Reset-Knopf, mein Ort zum Durchschnaufen und Entschleunigen. Hier habe ich, als die Welt sillstand, fast dankbar den Wechsel der Jahreszeiten beobachtet, weil eben doch immer alles weitergeht, weil die Erde sich dreht, auch wenn ein Virus die ganze Welt in Ketten legt. Nirgendwo sonst wird die Veränderung der Natur, das wechselnde Farbspiel der Bäume und die sich immer wandelnde Duftpalette mit ihren frischen, erdigen, pilzigen und moosigen Nuancen so deutlich wie im Wald. Nirgendwo sonst gibt es diese magischen Momente ganz früh am Morgen, wenn in der Dämmerung eine Rehfamilie zwischen den Bäumen auftaucht, die Ohren spitzt und uns aus dunklen Augen anschaut. Diese Momente, in denen selbst Anouk das Jagen vergisst und um unser Stillleben aus Mensch, Tier und Natur langsam der Tag erwacht.
Schon jetzt kann ich den Frühling kaum erwarten, sehne mich nach dem unkaputtbaren Impuls der Natur sich selbst wieder zum Leben erwecken, ihre unbezwingbare Kraft zu zeigen, begleitet vom Gezwitscher der Vögel, das niemals so süß klingt wie in den ersten Frühlingswochen. Ich freue mich, im Sommer unter dem schattenspendenden Blätterdach nach Abkühlung vor der Hitze zu suchen und im Herbst zu beobachten, wie sich der Wald sein goldenes Kleid überstreift, das raschelt wie Taft am Körper einer Frau, wenn man durch das herabgefallene Laub schlurft.
Wald ist Wandel und Beständigkeit, Wald ist Kraft und Ruhe, Wald ist Leben. Und vielleicht erfüllt sich mein Traum eines Tages und eine der verlassenen Hütten im Wald gehört mir. Mein ganz persönlicher happy place. Deep down in the woods.
Ich kann dich beruhigen, du bist damit nicht allein!
Als Kind hab ich Bergtouren, Wanderungen und Spaziergängen nichts abgewinnen können.
Hab gar nicht kapiert, wenn die Erwachsenen mir was von Naturwundern und schöner Aussicht erzählten.
Und ja, ich hab ne ziemliche Schnute gezogen. Erst als Urlaube getrennt stattfanden, kehrte wieder Frieden ein. Passt ja gut zu der Aussage deines Vaters 🙂
Irgendwie voll witzig, dass er so ehrlich zugibt, dass du die Stimmung runtergezogen hast.
Darin war ich als Kind wohl auch ziemlich gut.
Und jetzt ist es so, dass ich einen lustlosen und maulenden Sohn hinter mir herschleife, der nach zehn Minuten Anstieg im Gelände den Weltuntergang heraufbeschwört.
Die Geschichte wiederholt sich 🙂
Liebe Grüße,
Conni von mutter-sprach.de
Hey Conni,
das nennt man dann wohl Karma, wenn dein Sohn nun mit ähnlicher Euphorie hinter dir herstiefelt wie du früher hinter deinen Eltern! Aber wer weiß, vielleicht ergeht es ihm wie uns und er findet irgendwann Gefallen daran. Die Hoffnung bleibt!
Was meinen Vater angeht: Er nimmt selten ein Blatt vor den Mund …
Ganz liebe Grüße,
Kathrin