Hildchen geht es vermutlich wie  so vielen Erstklässlern in diesem denkwürdigen Schuljahr 2020/21: Seit September verbrachte sie mehr Zeit im Homeschooling als im Klassenzimmer. Ob die kurzen Präsenzsequenzen vor Ort ausreichten, um überhaupt zu begreifen, wie Schule sich anfühlt, kann ich nicht mit Sicherheit sagen. Was ich aber weiß: Hildchen hat sich im Vorfeld irre auf die Schule gefreut. So sehr, dass sie mir nun unfassbar leidtut, weil sie zu Hause abhängen muss, statt gemeinsam mit ihren Freundinnen und Freunden in den Genuss eines geregelten Unterrichts zu kommen. Unter der Leitung einer kompetenten Fachkraft mit pädagogischem Einfühlungsvermögen. Denn so viel ist sicher: Ich bin für diese Aufgabe weder in irgendeiner Weise kompetent noch pädagogisch geschult. In erster Linie bin ich nämlich Hildchens Mutter. Punkt. Der Druck, nun eine Aufgabe übernehmen zu müssen, die von nicht geringer Bedeutung für Hildchens spätere Einstellung zu Schule im Allgemeinen und Lernen im Speziellen ist, ja, im schlimmsten Fall sogar für ihren lebenslangen Erfolg im Lesen, Schreiben, Rechnen, zwingt mich gewaltig in die Knie.

Die Gefahr, gehörig zu verkacken, ist groß.

Schon jetzt merke ich, wie sich Hildchens Eifer dämpft, sobald ich mit den Matheaufgaben ums Eck komme. Nicht, weil es ihr an mathematischem Verständnis mangelt, sondern mir schlicht die Fähigkeit fehlt, Rechensprünge am Zahlenstrahl und Minusaufgaben mit Zehnerübergang kindgerecht zu vermitteln. Das könnte daran liegen, dass ich dummerweise nie Grundschullehramt studiert habe. Mit dem Wissen von heute, dass nämlich Schulen über Wochen und Monate hinweg geschlossen bleiben und Eltern den Bildungsauftrag übernehmen müssen, hätte ich mich als frischgebackene Abiturientin womöglich anders entschieden. Statt für Literaturwissenschaften und Europäische Ethnologie hätte ich in die Zukunft meiner noch ungeborenen Kinder investiert und mich entsprechend akademisch ausbilden lassen. Jetzt kann ich zwar prächtig über den Osterbrauch des Eierlaufs referieren, aber meiner Tochter hilft das in der aktuellen Situation kein bisschen weiter.

Eine Lanze für Hildchens Lehrerin.

Bei all dem haben wir mit Hildchens Lehrerin immerhin großes Glück. Auch wenn mir als Schulkind-Mama-Anfängerin Vergleichswerte zu anderen Lehrern fehlen, glaube ich, dass die junge Pädagogin einen Wahnsinns-Job macht: liebevoll selbst gestaltete Erklärvideos, zweimal wöchentliche Videokonferenzen in kleinen Gruppen, um Lerninhalte  zu vertiefen, einmal wöchentlich Online-Sprechstunde für die Kinder, an das Kind adressierte Feedbacks zu den Leistungen per Schulmanager, übersichtliche Wochenpläne, dreifach zur Verfügung gestelltes Lernmaterial in Papierform, bei mebis und in der Schul-Cloud. Und trotzdem können weder die umfangreichen Bemühungen der Lehrerin noch meine stets guten Absichten den Präsenzunterricht ersetzen.

Wenn im Distanzunterricht die Distanz fehlt …

Nochmal zur Erinnerung: ich bin Hildchens Mama. Sie ist meine Tochter. Unsere Bindung ist eng. So eng, dass uns die Distanz fehlt, die Hildchen naturgemäß zu ihrer Lehrerin hat, die eben nicht ihre Mutter ist. Eine Distanz, die es erleichtert, Kritik anzunehmen und sich auf Fehler hinweisen zu lassen. Wenn ich wage anzumerken, dass sich Bruder nicht mit a am Ende schreibt, obwohl es so klingt, wird wahlweise diskutiert, gebockt oder geheult. An besonders guten Vormittagen auch alles zusammen. Weitere Erklärungen und Hilfestellungen sind dann schwierig. Auch eine sanfte Umarmung oder ein aufmunterndes „Hey, ist doch nicht so schlimm! Aus Fehlern lernt man! Von jetzt an weißt du immer, wie sich Bruder schreibt!“, helfen dann nicht. Kritik von der Lehrerin ist okay. Kritik von mir ist ein persönlicher Affront. Und ehrlicherweise ist mir nach Wochen des Homeschoolings bei solchen Stimmungsschwankungen auch nicht mehr so oft nach sanft und aufmunternd. Dann rollen meine Augen, bis ihnen schwindelig wird und statt eines liebevollen Tons entfleucht mir ein genervtes Stöhnen.

Die Stimmung kippt.

In diesen Momenten findet Hildchen nicht, dass ich die „lustigste und liebste Mama“ bin. In diesen Momenten findet sie mich einfach nur doof. Und ich finde doof, dass meine Tochter mich doof findet und ich meinen Kopf für etwas hinhalten muss, für das ich mich nicht freiwillig gemeldet habe. Ich wollte nie Hildchens Mathelehrerin sen. Dafür gibt es Menschen, die sogar bezahlt werden, diesen Job zu übernehmen. Ich bin dafür da, mein Kind tröstend in den Arm zu nehmen, wenn es von der Schule nach Hause kommt und wegen der Unmengen an Hausaufgaben jammert, die zu erledigen sind. Ich bin die, die ihr ein Glas Milch und einen Teller mit Doppelkeksen hinstellt, damit die Unmengen erträglich werden. Ich bin die, die stolz den Deutschtest mit der vollen Punktezahl unterschreibt. Zumindest war das die Rolle, in der ich mich gesehen habe, damals, als Hildchen zahnlückig mit Schultüte und zu großer Schleife im Haar am ersten Schultag fürs Erinnerungsfoto posierte. Das freudige Lächeln ist längst verschwunden. In die mittlerweile zum Kissen umfunktionierte Schultüte werden verzweifelte Tränen nach einem unglücklichen Schultag am heimischen Esstisch geweint. Und unsere Beziehung hat spürbar gelitten.

Plötzlich bin ich Fräulein Rottenmeier.

Beschränkte sich mein mütterliches Mahnen sonst nur auf die Einhaltung der Zahnhygieneregeln und der Unterlassung von Streitereien mit dem kleinen Bruder, sind nun weitere Mahnfelder dazugekommen. Ordentlich schreiben, auf den Arbeitsblättern Datum und Name nicht vergessen, sich bei den Erklärvideos konzentrieren und nicht Haarsträhnen zu Kordeln drehen, rechnen und nicht raten, alle Buchstaben der Wörter lesen und nicht die letzten Silben verschlucken und so weiter und so fort. Auch wenn ich auf den mahnenden Zeigefinger verzichte, weil ich ihn selbst nicht mag, hat sich meine Stimme in den letzten Monaten einen durchaus mahnenden Tonfall zugelegt, der selbst dann reglementierend klingt, wenn ich inhaltlich nur über das Mittagessen spreche. Ablegen lässt sich dieser Frau Rottenmeier-Habitus schwer, was umso frustrierender ist, da ich ihn so wenig leiden kann wie den Zeigefinger. An Hildchens Stelle würde ich mich auch doof finden. Dann würde ich bei meinem morgendlichen „So, jetzt holst du deinen Schulsachen und dann legen wir los! Es gibt viel zu tun!“ auch schon prophylaktisch den Mund zu etwas verziehen, das sich eigentlich erst als Ausdruck ablehnenden Protests in den Gesichtern von Teenagern findet. Dann hätte ich auch keinen Bock mehr auf die Alte, die so tut, als hätte sie wahnsinnig viel Ahnung.

Ahnung habe ich keine, aber jede Menge Sorgen.

Ich sorge mich, dass meine Tochter den Anschluss verpasst, dass ich nicht genug Erste-Klasse-Stoff in ihr im Grunde lernwilliges Köpfchen bekomme, Neues nicht ausreichend übe, Erlerntes nicht so viel wie nötig festige. Ich sorge mich, diesen Homeschool-Job nicht gut genug zu machen und dass mein Arbeitszeugnis am Ende mies ausfällt und mir Scheitern auf ganzer Linie assistiert. Ich sorge mich, dass die Politik trotz schlechten Arbeitszeugnisses, trotz Kenntnis meines Scheiterns darauf besteht, dass ich den Job weiter ausübe – egal, welche Konsequenzen das für mein Kind hat. Und am meisten habe ich Schiss, dass Hildchen irgendwann nur noch Fräulein Rottenmeier in mir sieht und nicht mehr die einst so lustige und liebe Mama.

Homeschooling kann auf Dauer mehr Schaden anrichten als nur den Lehrplan nicht zu erfüllen. Es birgt Potential, die kostbare Beziehung zu meiner Tochter zu vergiften. Und diese Folgen sind weitaus verheerender, als das lächerliche Versäumnis, den Zahlenraum bis zwanzig erfassen zu können.

Wenn der ganze Mist vorbei ist (und ich bete, dass er vorbei sein wird, ehe Hildchen ihren Schulabschluss hat), werden wir Nachhilfestunden für unsere Mutter-Tochter-Beziehung nehmen. Um mir das Mahnen abzugewöhnen. Und Hildchen das Maulen. Um unserer Beziehung wieder zu festigen und zu ihrer Grundbestimmung zurückzuführen: Mutter und Tochter zu sein.

Irgendwann Hildchen, irgendwann sind wir einfach nur wieder wir.