Im September kommt Hildchen in die Schule. Wir drehen uns also gerade noch so in der letzten Schleife der Spirale unseres ungezwungenen Lebens ohne Verpflichtungen. Noch lässt sich ohne Konsequenzen der Kindergarten schwänzen, wenn wir finden, dass sich ein Tag besser verbringen lässt als mit Morgenkreis und Musikstunde. Noch sind wir nicht darauf angewiesen, uns an Ferienzeiten zu halten und profitieren von Preisvergünstigungen der Nebensaison. Mit diesem Wissen im Hinterkopf widmeten sich der Wikinger und ich Anfang des Jahres der Urlaubsplanung für dieses letzte freie Jahr. Wie gesagt: Anfang des Jahres. Als Corona nur ein Begriff aus der Tagesschau war, der sich auf eine weit entfernte chinesische Provinz beschränkte. Lange vor Schließung der Grenzen, lange bevor die Welt sich schlafen legte. Wir saßen also im Wohnzimmer, das Silvesterkonfetti noch in den Sofaritzen und planten – nichtsahnend, was dieses Jahr 2020 für uns bereithalten würde und diskutierten leidenschaftlich über potenzielle Urlaubsziele.
„Ich möchte gerne wieder nach Schweden“, sagte ich träumerisch. „Ein Häuschen am See, nicht allzu weit weg vom Meer. Ich möchte, dass meine Seele wieder ausatmen und Kraft schöpfen kann für alles, was ab September auf uns zu kommt. Und ich will endlich Zimtschnecken essen.“
Dieses Versäumnis aus dem letzten Schwedenurlaub von vor zwei Jahren musste unbedingt aufgearbeitet werden. Jeder Versuch mir beim Bäcker oder in einem Café eine zu bestellen endete mit bedauerndem Schulterzucken: „Schon alle weg heute!“. Lediglich beim Besuch eines international bekannten Möbelhauses in Älmhult ergatterte ich im Bistro eine der Zimtschnecke, von denen ich in der hiesigen Filiale schon Dutzende verspeist hatte. Nicht schlecht natürlich, solides Backwerk, aber weit von dem entfernt, was ich mir in meiner Vorstellung an kulinarischer Raffinesse ausgemalt hatte. In besagter Phantasievorstellung saß ich nämlich mit seligem Lächeln in einem niedlichen Café vor einem aparten Porzellanteller mit hausgemachter, verführerisch duftender Zimtschnecke. Der Wikinger wusste das mit den Zimtschnecken. Und sagte trotzdem:
„Schweden ist zu weit. Viel zu weit. Die Reise dahin kostet uns mehr Kraft, als wir tanken können. Besonders die Rückfahrt.“
Ich nickte zögerlich, denn er hatte recht. Auch mit seinem zweiten Argument. Bei unserer letzten Reise waren wir nicht allein gewesen. Großeltern, Schwager und Schwägerin, samt Neffen begleiteten uns, was die Dynamik mit den Kindern positiv beeinflusst hat. Mehr Spielpartner, mehrere Schultern, auf die sich die Verantwortung des Bespaßens verteilte.
Schließlich ging er als Sieger aus unserer launigen Diskussion hervor und buchte zwei Wochen in einem Familienhotel am Balaton. Mit Kids Club, SUB- Verleih, Apartment mit Klimaanlage, zwei Schwimmbädern und Halbpension. Ich arrangierte mich. Dachte, das könnte tatsächlich gut werden. Wenn auch ohne Zimtschnecken.
Aber dann kroch Corona über die Grenzen der chinesischen Provinz hinaus. Auf den Virus folgten die Schließung der Grenzen, der Shutdown und die Absage des Hotels. Die Enttäuschung war groß, angesichts der weltweiten Krise jedoch lächerlich unbedeutend. Allerdings stieg mit Dauer der Einschränkungen die Urlaubsreife explosionsartig an. Und die Sehnsucht nach Schweden quoll auf wie Chiasamen in einer Schüssel Wasser.
Die Reise dorthin war wirklich eine der schönsten meines bisherigen Lebens gewesen. Ein Herzenswunsch, der 2018 in Erfüllung gegangen war. Schon die Anreise ein Abenteuer. Wir hatten uns für den Landweg entschieden und mit voll bepacktem Auto, schlafenden Kindern auf der Rückbank und einer vor Aufregung nervösen Blase ganz Deutschland durchquert. In Hamburg legten wir einen Zwischenstopp ein, verbrachten den Tag in der Metropole und die Nacht bei meiner Cousine in einer gemütlichen Dachgeschosswohnung. Am nächsten Tag ging es weiter Richtung Norden, um mit dem Rest der Reisegesellschaft zusammenzutreffen, mit der wir uns das großzügige Ferienhaus in Traryd teilten. Großes Hallo mit den Großeltern und der Familie meiner Schwägerin auf einem Flensburger Supermarktparkplatz, bevor die letzten freien Nischen des Kofferraums mit den wichtigsten Grundnahrungsmitteln vollgestopft wurden, denn nur von Zimtschnecken kann man sich freilich nicht ernähren. Mit deutschen Nudeln im Gepäck überquerten wir die dänische Grenze. Eine zugegeben zähe Fahrt, in der ich ungefähr fünfhundert Mal „Hänschen Klein“ intonieren musste, weil der kleinste Reisegast mit den Transportbedingungen unzufrieden war. Bevor nicht nur meine Blase sondern auch mein Nervenkostüm empfindliche Reizzustände annehmen konnte, änderte sich die Stimmung schlagartig, sobald wir die schwedische Grenze passierte. Beim Blick von der Öresundbrücke nahm eine dieser kitschigen Liebesbeziehung ihren Anfang, die Menschen dazu veranlasst, sich Fähnchen in den Garten zu stellen, die nicht das eigene Heimatland repräsentieren. Jeder Baum, den wir passierten schien mir anbetungswürdig, die frisch abgeernteten Felder entzückend und die verstreut in der Landschaft vor sich hin heimelnden Häuser und Höfe gaben mir den Rest. Ich war verliebt. Hoffnungslos verliebt. Selbst die Kinder schienen angetan und drückten die Näschen schweigend an den Fensterscheiben platt.
Unser Ferienhaus, die Villa Grönö erfüllte alle skandinavische Klischees, die ich kannte und sogar einige, von denen ich zuvor nie gehört hatte. Von der reizenden Blümchentapete in den Schlafzimmern über die bequemen Sofas, von denen ich mir sicher war, sie bei meinem Lieblingseinrichtungshaus schon mal Probe gesessen zu haben, war alles dabei was Begeisterung für die hyggelige Lebenswart weckte. In den Schränken reihten sich pastellzarte Tassen und Teller und Elchfiguren lächelten mir gutmütig von ihren Fensterplätzen zu. Rangekuschelt an eine Waldlichtung mit dickem Moos und verträumt plätscherndem Bachlauf, lag das Haus eine halbe Stunde Fußmarsch vom nächsten See entfernt. Zu kalt zum Baden, perfekt um am Ufer zu sitzen, vor sich hin zu träumen, dem Wasser beim Schwappen an das Ufer zu lauschen und mit dem Boot darüber zu schippern. Perfekt, um den Kindern die ersten Angelhandgriffe beizubringen. Eine nie dagewesene Stille hieß mich willkommen – weder am See, noch im Wald traf man auf viele Leute. Wenn ich in Geschäften Einheimischen begegnete, dann zeigten sie sich stets ruhig und zurückhaltend und herrlich unaufgeregt. Weder im Straßenverkehr, noch in den Läden ging es hektisch zu, es wurde nicht gedrängt und auf die Pelle gerückt. Die Schweden halten Abstand, ohne dabei abweisend oder unfreundlich zu sein. Hilfsbereitschaft wird großgeschrieben. So wurde gar der Vorstand des örtlichen Angelvereins auf seinem Privathandy kontaktiert, als wir wegen der Angellizenz Fragen hatten und auf gut Glück im Gemeindehaus an Informationen zu kommen versuchten. Obwohl wir kein Wort Schwedisch sprachen, funktionierte die Kommunikation mit dem uns zur Verfügung stehenden Englisch hervorragend. Das half, mich nie fremd zu fühlen. Im Gegenteil, es war ein staunendes Heimkommen, als wäre es dringend nötig gewesen, dieses Land kennenzulernen, das ich nur aus den Büchern meiner Kindheit, von Besuchen beim blaugelben Möbelriesen und aus meinen geliebten Skandinavien-Krimis kannte.
Ich näherte mich oberflächlich, kratzte mich Schicht um Schicht tiefer in das Herz Schwedens. Zuerst bewegten wir uns im Angebot der üblichen Touristenattraktionen, die in Flyern und Broschüren massenweise in unserem Ferienhaus auslagen. Die Kinder fütterten Elche und staunten kichernd über den intensiven Geruch der riesigen Tiere. Wir erkundeten sternförmig die Orte in der Nähe, das Herzstück bildete dabei stets das kleine Örtchen Markaryd. Stand uns der Sinn nach Menschen und Stadt standen Ausflüge nach Osby oder Älmhult auf dem Programm, wo es zum Beispiel ein Spielzeugmuseum zu besichtigen gab, zog es uns in die Natur besuchten wir das Wohnhaus des Botanikers Carl Linnés in Råshult. Unter alten Apfelbäumen, in deren Kronen sich Wind und Sonne zu einem munteres Versteckspiel trafen, schlemmten wir uns durch ein köstliches vegetarisches Mittagsbuffet, denn die Schweden sind ganz groß in Mittagsbuffets, was durchaus familienfreundlich (und budgetfreundlich) ist. Auch wenn die Kinder vom vegetarischen Angebot wenig entzückt waren, das Blaubeereis am Ende rettete die Stimmung.
Highlight für mich und den Nachwuchs war zweifelsohne die Astrid Lindgren Värld in Vimmerby. Auch wenn wir dafür fast sechs Stunden Fahrt in Kauf nehmen mussten und mir das aufdringliche Merchandise missfallen hat, war dieser Tag eine Reise in die Buchbilder in meinem Kopf. In Michels Küche auf Lönneberga zu stehen, Pipi auf dem dem kleinen Onkel zu bewundern, in ihrem Bett zu liegen oder über die Hoppetosse zu springen, war ein bisschen so, wie als ob Phantasiewelten plötzlich Wirklichkeit wurden. Die Ronja Räubertochter Show zauberte mir Tränen in die Augen und der Bauch füllte sich beim Pfannkuchenbuffet mit pannkakor, Sahne und roter Grütze, bis ich auch da fast Heulen musste, allerdings eher wegen Magenschmerzen.
Nach trubeligen Tagen wie diesem in Vimmerby suchten wir zum Ausgleich wieder nach Ruhe und fanden sie am Strand in Halmstad. Frostbeulen bevorzugten architektonische Beschäftigung und errichteten Sandburgen, die Mutigen hopsten in den zugegeben frischen Wellen gegen das Zähneklappern an.
Nicht ein Buch hab ich gelesen in diesem Urlaub und das lag ausnahmsweise nicht an den Kindern. Ich war viel zu beschäftigt, mir alles einzuprägen, alles aufzusaugen, Häuser, Städte, Menschen, Geschirr, das Gefälle des Strands und den Baumwipfeln der Wälder.
Auch wenn in Zeiten von Corona das Reisen ein wagemutiges Glücksspiel bliebt, auch wenn die Fahrt dorthin Kraft, Benzin und Nerven kostet … irgendwann kehre ich zurück, suche mir ein niedliches Café und bestelle Kanelbullar.