Es wäre falsch zu behaupten, meine Familie würde Fasching mögen. Wir mögen es nicht. Wirklich nicht. Wir LIEBEN die fünfte Jahreszeit! Jedes verdammte Konfettipartikelchen. Schon Monate im Voraus werden im Familienrat Kostümideen gesammelt, kritisch diskutiert und schließlich für gut befunden oder verworfen. Einschlägige Karneval-Online-Shops verdienen gut an uns, schließlich wird sorgfältig für jedes Familienmitglied eine eigene DIN A4-Blatt-große Kostümliste erstellt, welche Verkleidung zu welcher Veranstaltung getragen wird, denn da gibt es einige und man will ja nicht durcheinander kommen und schon gar nicht zweimal hintereinander dasselbe Kostüm tragen. Trotz aller Ausgelassenheit und Narretei nehmen wir dieses Verkleidungs-Ding wirklich sehr, sehr ernst.

Besonders Paarkostüme erfreuen sich bei meinem Mann und mir größter Beliebtheit. Wenda und Waldo, Rotkäppchen und als Großmutter verkleideter Wolf, rothaarige Meerjungfrau und  muskulöser Neptun, scheues Reh und kühner Jäger, raffiniertes Ganoven- und abgefucktes Punk-Pärchen. Auch vor meinen Kindern macht die Leidenschaft für Gemeinschafts-Kostüme nicht Halt. Sowohl meine Tochter als auch mein Sohn trugen bereits das passende kleine Pendant zu meinem Rotkäppchenkostüm, und die ganze Familie galoppierte einst geschlossen in pastellfarbenen Einhornfamilie-Outfits beim Kinderfasching durch die Festhalle.

Apropos Kinder: Natürlich haben Hildchen und Oski Koslowski meine Faschingsleidenschaft geerbt und sich bereits mit der Muttermilch ins Helau-Koma geschöppelt. Zunächst im Babybauch, dann als Winzlinge in pummeligen Erdbeer- und Bienenkostüm im Kinderwagen. Weil beide Kinder bei den Tanzmäusen, der kleinsten Garde des Faschingsvereins, aktiv sind, verändert sich wie von Zauberhand ihre Körperhaltung in der närrischen Zeit. Es wird nicht mehr gegangen, oh nein, sie marschieren, Rücken gerade, Brust raus, Hände in die Hüften und hoch das Bein. Sie beherrschen im Schlaf alle gängigen Faschingssongs, tanzen fehlerfrei die Choreografie von Cowboy und Indianer, kennen die Antwort auf die Frage Wie heißt die Mutter von Nicki Lauda?, salutieren dem Bierkapitän und lassen souverän den Helikopter 117 steigen. Sicher fußt ihre Begeisterung auf der Tatsache, dass sich die Ernährung während der närrischen Tage fast ausschließlich auf Süßigkeiten reduziert, die bei den zahlreichen Faschingsumzügen in der Umgebung vom Boden gepflückt werden. Lediglich Pommes und Würstchen unterbrechen die konstante Zuckerzufuhr gelegentlich. Und Krapfen natürlich.

Üblicherweise verschleißen wir an den Faschingsabenden alle uns zur Verfügung stehenden Babysitter, denn der Wikinger und ich lassen keine Party aus, die sich im Veranstaltungskalender findet. Zugegeben, die Leber leidet in dieser Zeit ein wenig, ebenso die Füße, die spätestens nach der zweiten durchtanzten Nacht nicht mehr so recht in die Schuhe passen wollen. Aber all das ist vergessen, sobald man sich am nächsten Tag wieder in die Polonaise einreiht und die Löcher aus dem Käse fliegen. Auch wenn unsere Kehlen vom vielen Helau-Schreien und Mitgrölen schmissiger Partykracher heiser sind, genießen wir jede einzelne Sekunde, jeden einzelnen Moment: Das Tanzen mit meinen Freunden, das In-andere-Rollen-Schlüpfen, das Ein-bisschen-neben-der-Kappe-Sein statt erwachsen und vernünftig, die Verwandlung vom MOMeränzchen in einen Vampir, in Minnie Mouse oder eine Fee.

Es ist ein Sich-ausklinken-Dürfen aus dem Alltag, der alle jenseits der Zwanziger in die seriöse Rolle des Erwachsenendaseins drängt, eine Rolle, die so bodenständige Sachen abverlangt wie Steuererklärung abgeben, Elterngespräche im Kindergarten führen und vierteljährlich die Filter der Lüftungsanlage wechseln. Während der Faschingszeit darf ich die Maske des Erwachsenen-Ichs gegen pinke Perücken und Polyesterschlaghosen tauschen und die Ausgleichsphase beginnt. Eine Art Druckausgleich, um mich wieder ins Gleichgewicht zu bringen, die Balance zu finden zwischen dem sorglosen, singenden und springenden inneren Kind und der vernünftigen Vierzigjährigen. Ich darf ein bisschen albern sein, bescheuert aussehen und tanzen als wäre ich wieder siebzehn Jahr’ und hätte plötzlich blondes Haar. Ich brauche diesen Ausgleich; in der Regel genügt er auch und die fünfte Jahreszeit gleicht die anderen vier für den Rest des Jahres aus.

Doch dieses Jahr ist alles anders.

Es wird kein Fasching geben. Keine wirkliche Überraschung, schon letzten Herbst haben die Vereine auf die pandemische Krisensituation reagiert und vorsorglich alle Veranstaltungen abgesagt. Nachvollziehbar. Notwendig. Klar. Und trotzdem meldet sich nun die Wehmut, und Was-wäre-Wenn`s trudeln  wie trauriges Konfetti vor der FFP2-Maske zu Boden. Nur auf den Profilbildern meiner WhatsApp-Kontakte findet ein abgespeckter digitaler Karneval in Form von Erinnerungen an bessere Zeiten statt. Auf einem bin auch ich zu sehen, Arm in Arm mit meiner Freundin, Heißer Teufel und Schwarzer Engel. Im Moment darf ich meine Freundin nicht mal in den Arm nehmen. Wegen Abstand und so. Social distancing und stay at home statt Helau und Tätärätä.

Schweren Herzens distanziere ich mich also vom langgehegten Plan eines Wikinger-Paarkostüms: Ragnar Lodbrok und die Schildmaid Lagertha, skandinavisches Flair in der fränkischen Provinz. Ich distanziere mich vom heimlichen Wunsch, mich nach dem ersten Lockdown im letzten Jahr, dessen Anstrengungen ich nie richtig überwunden, von dessen kräftezehrenden Strapazen ich mich nie richtig erholt, dessen daraus resultierende leeren Akkus ich nie richtig aufladen konnte, zumindest ein bisschen freizumachen. 2020 abzuschütteln bei einem Gläschen Touchdown und Journey`s Don`t stop. Was bleibt ist Distanz. Und Wehmut. Wir bleiben zu Hause. Jeder für sich. Vielleicht im Kostüm. Vielleicht mit Pommes. Aber ohne Druckausgleich.

Hoffen wir auf nächstes Jahr. Skål.